Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
ich statt der Standardfähre eins von den Tragflügelbooten gewählt, die überall auf dem Jangtse-See verkehren. Weil sie mehr über das Wasser fliegen als fahren, machen diese Geschosse, die zum größten Teil aus Russland oder der Ukraine stammen, rund neunzig Kilometer in der Stunde. So will ich mich nach Wanzhou schießen lassen, einer Stadt rund hundertzwanzig Kilometer weiter westlich. Hier will ich auch die schnöde im Stich gelassene 318 wiedertreffen, die an dieser Stelle erneut den Jangtse überquert. Vielleicht wird ja auch das Wetter besser, wenn ich zurück auf meiner Straße bin.
Natürlich stehe ich am Pier im Mittelpunkt. Ein alter Mann, der seine Zigarette in einer kleinen silbernen Pfeife raucht, möchte wissen, ob ich Russe bin, wie teuer meine Schuhe waren und wie viel ein Flug nach Deutschland kostet. Ein jüngerer Mann wünscht ein Foto von sich und mir. Er wirkt ein bisschen schwul, und ich stelle mir vor, wie er das Bild von uns beiden auf seine Homepage stellt und drunterschreibt: «Mein neuer Freund.» Wenn’s der chinesischen Schwulenemanzipation dient, soll’s mir recht sein.
Beim Einsteigen ins Tragflügelboot gibt es den üblichen Kampf – jeder gegen jeden. Da kann das Personal noch so eindringlich betonen, dass es Plätze für alle gibt. Dann geht das Boot ab wie eine Rakete. Im Fernsehen läuft «The Day After Tomorrow». Die Realität am Fluss wirkt wie ein Kommentar zu den fiktiven Klimakatastrophenbildern. Eine Fabrik taucht am rechten Ufer auf, die in Flammen zu stehen scheint. Es sind aber nur die Abgase, die aus den Fabrikschornsteinen quellen. Ich beobachte die Dreckinseln, die sich auf dem Wasser gebildet haben. Plastik, Schwemmholz, Pappschalen sammeln sich um dicke, weiße Brocken aus Styropor. Nach einer Weile verschwindet der Müll in den Wolken, die sich auf den Fluss senken, und wir schießen blind nach vorn.
Gute zwei Stunden braucht das Tragflügelboot für die Strecke, die nur ein bisschen kürzer ist als die Fahrt durch die Schluchten. Dann legen wir in Wanzhou an. Die Stadt ist Fengjie ziemlich ähnlich. Seit rund zweitausend Jahren liegt sie hier an den steilen Hängen des Jangtse, ist von Treppenstraßen durchzogen und ebenfalls von der Flutung des Jangtse-Staudamms betroffen. Allerdings ist Wanzhou genau genommen gar keine Stadt. Schon seit Fengjie befinde ich mich nämlich auf dem Gebiet der Stadt Chongqing, mit 82 400 Quadratkilometern praktisch so groß wie Österreich und damit die größte Stadt der Welt. Auf dieser Fläche wohnen rund zweiunddreißig Millionen Einwohner, was Chongqing auch auf Platz zwei der Großstadtbevölkerungscharts bringt, knapp hinter Tokio. Trotz der rund 1,7 Millionen, die davon in Wanzhou leben, ist also diese Ansiedlung letztlich nichts anderes als ein etwas abgelegener Stadtteil Chongqings. Auch das hat Wanzhou mit Fengjie gemein. Es gibt dennoch Unterschiede zwischen beiden Stadtteil-Städten. Wanzhou ist nicht komplett, sondern nur halb im Jangtse-Stausee verschwunden; die versunkene Hälfte wurde weiter oben wieder aufgebaut. Und es regnet hier nur halb so viel wie in Fengjie, zumindest im Moment.
Das ist allerdings immer noch genug. Aber wenigstens gibt es CCTV 9 im Hotelzimmer, den einzigen nationalen englischsprachigen Fernsehkanal Chinas. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit James Chau, dem lispelnden Nachrichtensprecher mit Segelohren, der unbegreiflicherweise in der Pekinger Medienszene als Sexsymbol gilt. So etwas kann einem tatsächlich nur in China passieren. Geradezu begeistert bin ich, als ich aus dem Wetterbericht erfahre, dass es auch anderswo in China regnet. In den von mir bereits abgehakten Provinzen Anhui und Hubei gibt es sogar schwere Überschwemmungen. Die Katastrophenmeldung des Tages aber kommt aus England: Phil Collins verkündet, Genesis habe sich wiedervereinigt, und erklärt den Chinesen, warum.
Der plötzliche Anblick des alten Drummers erinnert mich daran, dass ich dringend zum Friseur muss. Ich suche mir einen Salon, in dem sowohl Frauen als auch Männer sitzen. Ich kann mir nur wenig Peinlicheres vorstellen, als mir mit meiner Frisur bei einem chinesischen Damenfriseur die Haare schneiden lassen zu wollen. Die dauergewellte Chefin freut sich ein Loch in den Bauch, als ich den Laden betrete. Sie übernimmt mich persönlich, und ich kriege das volle Programm. Erst wird fünfzehn Minuten shampooniert und dabei mit spitzen Fingern die Kopfhaut massiert. Anschließend werden die Ohren von
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