Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
einmal nach seiner Frau rufe. Frau Kurtz aber ist schon wieder draußen, neue Opfer einfangen, der Mann hat sich derweil um die Geiseln zu kümmern. Er ist ein kleiner, wohlgenährter Zwerg mit Glatze, der nichts weiter als eine schlabbernde Unterhose trägt. Ich will von ihm die Fernbedienung für die Klimaanlage, denn ich schwitze immer noch wie eine Sau. «Für dreißig Kuai gibt es keine Aircon», sagt Herr Kurtz und schafft es, verächtlich an mir hochzugucken. Ich hasse den Mann auf der Stelle und antworte: «So. Das reicht. Ich gehe.» Sofort wird Kurtz kleinlaut und verspricht, dass seine Frau mir eine Fernbedienung geben werde, sobald sie wiederkomme.
Colonel Kurtz kommt nicht wieder, vielleicht wurde sie draußen in Kampfhandlungen verstrickt. Also schmeiße ich ihren Mann wieder aus dem Bett. Jetzt sucht er selbst in einer Schublade voller Fernbedienungen nach der richtigen, die er mir dann seufzend gibt. Sie sieht gut aus, funktioniert aber nicht. Herr Kurtz muss jetzt auch noch nach neuen Batterien suchen. Dabei steht ihm ein Gedanke auf der Stirn geschrieben. Er lautet: Wieso hat meine Frau bloß dieses Arschloch in die Wohnung geholt? Ich aber finde langsam Gefallen an der Sache. Das wird diesen Leuten eine Lehre sein, hilflose Lange Nasen zu verschleppen.
Endlich sind die passenden Batterien gefunden. Herr Kurtz setzt sie ein und will sofort wieder im Bett verschwinden. «Halt», sage ich, «erst ausprobieren.» Zu Kurtzens Entsetzen tut es die Klimaanlage immer noch nicht. Vor Wut kochend stellt er sich mit seinen nackten, schmutzigen Füßen auf die Hundedecke auf meinem Bett und hält die Fernbedienung direkt vor das Infrarotauge. Die Klimaanlage springt an.
In der Nacht träume ich von Memmingen, keine Ahnung, warum. Nach dem Aufwachen packe ich, ohne geduscht oder die Zähne geputzt zu haben, meine Sachen. Als ich vor die Zimmertür trete, sitzt da Frau Kurtz im Halbdunkel. Sie sieht traurig aus, vielleicht hat es mit ihrem Mann Streit gegeben, weil sie nur so wenig Geld aus mir herausgepresst hat. Ich zahle, und sie fragt: «Wohin gehst du?» – «Oh, das sage ich dir bestimmt nicht.» Könnte ich auch gar nicht, denn ich weiß in diesem Moment selbst noch nicht, wohin. Zum Glück finde ich gleich um die Ecke ein richtiges Hotel. Das Zimmer liegt ein Stockwerk über einem Warenlager und ist so groß wie eine Suite. Als ich auf dem Flur ein nagelneues Mao-Poster entdecke, weiß ich, dass ich richtig bin. Ich nehme das Zimmer für sechzig Kuai, lege mich aufs Bett und lausche dem Tuten der Schiffe, die am Pier an-und ablegen. Ich habe meine Freiheit wieder.
Freiheit ist in einer chinesischen Stadt, in die praktisch nie ein Ausländer kommt, natürlich eine relative Sache. Kaum trete ich auf die Straße, starrt mich die versammelte Bevölkerung an, als materialisierten sich Captain Kirk, Spock und Pille gemeinsam vor ihren Augen – nackt. Sofort hängt sich auch ein Trupp Lastenträger an mich. Auf Chinesisch heißen diese Männer Bang Bang Jun – die Stock-Stock-Soldaten –, weil sie jeder einen dicken Bambusstab in der Hand halten, mit dem sie bei Bedarf die Lasten auf den Schultern tragen. Gestern hätte ich sie gut gebrauchen können, doch heute habe ich nur einen kleinen Rucksack dabei, den ich bequem selbst tragen kann.
Ich bin etwas enttäuscht von der Stadt, die ich sehe. Die Trümmerlandschaft, die ich aus dem Jia-Zhang-ke-Film kenne, ist komplett verschwunden. Das ehemalige Wohnhaus des berühmten Dichters Du Fu, alte Stadttore aus der Ming-Dynastie, ein Kraftwerk mit einem fünfzig Meter hohen Schornstein, all das ist also tatsächlich «vaporisiert» worden, wie die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua anlässlich der Proklamierung der Zerstörung des alten Fengjie im Jahr 2002 versprach. Die allerletzten Reste der Altstadt müssen dann im Herbst 2006 im Jangtse untergegangen sein, als der Wasserspiegel auf hundertsechsundfünfzig Meter angehoben wurde. Die Stadt, in der ich stehe, ist komplett neu und vollgestellt mit weißen, recht großzügig geschnittenen Klinkerbauten.
Auch Verbrecher und Verseuchte kann ich auf den Straßen nicht entdecken. Schade, denke ich, denn tagsüber bin ich mutiger als nachts. Das heißt aber nicht, dass ich vollkommen unbehelligt bleibe: Ein magerer junger Bursche läuft mir die ganze Zeit nach wie ein Hund. Ich kann nicht herausbekommen, was er will, denn er spricht in einem Dialekt, von dem ich gar nichts mehr verstehe. Trotzdem lässt er
Weitere Kostenlose Bücher