Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Qutang-Schlucht. Die letzte der drei Schluchten erstreckt sich von Wushan bis nach Fengjie. Sie ist die imposanteste, und ihre Passage galt bis zur Flutung des Stausees als sehr gefährlich. Ich aber bekomme von der Schlucht nichts mit, denn mittlerweile ist es völlig dunkel.
Ich gehe zurück in meine Kabine, weil ich das Gefühl habe, dass die anderen Passagiere mich nach Einbruch der Dunkelheit noch feindseliger und gemeiner anblicken. Ich verstehe wirklich nicht, was los ist. Offenbar hält man meine Anwesenheit für eine Provokation. Vielleicht soll ich das alles hier nicht sehen: die engen Kabinen, den defekten Wassertank, aus dem kochendes Wasser spritzt, den ganzen Rost. Aber ich bin’s doch, will ich den Leuten zurufen, euer alter Laowai-Superstar und Heilsbringer, den ihr schon hunderttausendmal mit euren Hello-Hosiannas grüßtet. Kennt ihr mich denn nicht mehr?
Ich lege mich auf mein Bett, öffne eine Dose Tsingtao und starre in die schwarze Nacht da draußen. Nur am rechten Flussufer leuchten schwach die Lampen grüner Bojen. Dann flammt auf der Brücke ein Suchscheinwerfer auf, dessen dünner Kegel die Felsen abtastet. Und während mein Blick dem Licht folgt, kriege ich Schiss. Nie habe ich mich auf meiner Reise einsamer gefühlt als auf diesem Schiff. Und ich habe keine Ahnung, was mir noch bevorsteht, wenn ich nachher mitten in der Nacht von Bord gehen muss. Ich hasse es, an einem unbekannten Ziel nachts anzukommen. Wenn es doch bloß nicht regnen würde. Doch statt schwächer wird der Regen immer stärker. Und plötzlich fällt mir ein, woran mich das hier alles erinnert. Es ist wie in «Apocalypse Now», nur dass Jim Morrison noch nicht angefangen hat, im Off «The End» zu singen. Ich bin Captain Willard und fahre in geheimer Mission den Mekong hoch. Es regnet wie bekloppt, ich bin von Feinden umzingelt, und am Ende meiner Flussfahrt wartet auf mich der grausame und verrückte Colonel Kurtz. Die große Frage lautet: Wer wird mein Kurtz in Fengjie sein?
Die große Frage beantwortet sich nach Mitternacht, und meine Angst war voll berechtigt. Colonel Kurtz ist noch viel grauenhafter, als ich mir das hätte ausmalen können. Eine dicke Frau mit Brille teufelt auf mich ein und zerrt an mir herum, während ich mich mit meinem schweren Gepäck geschätzte eintausend Treppenstufen nach Fengjie hinaufquäle. «Da binguan – tai pianyi!», schreit Frau Colonel Kurtz mir ins Ohr, großes Hotel – sehr billig! – «Ich will dein Hotel nicht, geh weg», ächze ich zurück. Nach der Übernachtung bei Frau Schlepperin in Tongli habe ich mir geschworen, mich niemals mehr abschleppen zu lassen und schon gar nicht in einer Malaria-und Gangsterstadt. Das Dumme ist nur, dass ich nach den ersten hundert Stufen unter meinem Gepäck fast zusammenbreche. Ausgerechnet heute ist es besonders schwer, weil ich auf der Fahrt bis auf das Bier von meinem bescheuerten Expeditionsproviant nichts verbraucht habe. Die dicke Frau Colonel aber springt neben mir die Stufen hinauf wie ein junges Reh. Die lange Treppe endet in einem Empfangsgebäude, in dessen Innerem noch mehr Treppen warten. Tapfer stapfe ich weiter, während sich Frau Kurtz aufs Flöten verlegt: «Mein Hotel ist ganz nah. Komm, gib mir was von deinem Gepäck.» Endlich stehe ich vollkommen schweißgebadet auf einer Straße. Doch als ich sehe, dass kein Hotel in Sichtweite ist, es keine Taxis gibt und es in den Rest der Stadt noch weiter hinaufgeht, gebe ich auf. «Okay, ich sehe mir das Zimmer an.» Wenn ich es nicht will, kann ich ja immer noch woandershin gehen.
Das «große Hotel» ist, wie vermutet, eine große Wohnung in einem modernen Wohnblock, fünfter Stock, kein Fahrstuhl, und das Zimmer, in dem ich übernachten soll, war mal das Kinderzimmer. Von der Deckenlampe grinst eine Hello-Kitty-Katze, die pinke Bettwäsche ist mit jungen Welpen bedruckt, und auf der gelben Gardine marschieren Teddybären durch eine winterliche Landschaft zum Schneemannbau. «The horror! The horror!», murmele ich, auch wenn das in «Apocalypse Now» der Text des Colonels ist. Wie komme ich hier bloß wieder raus? Am besten nenne ich einen unverschämten Preis. Auf der Straße hat Frau Kurtz eben noch hundert Yuan verlangt. Also biete ich dreißig. Blöderweise ist Frau Kurtz sofort einverstanden.
Herrn Kurtz gefällt die Sache weniger. Er kommt aus seinem Bett in einem der Nachbarzimmer gekrochen, als ich fünf Minuten nach meiner fast bedingungslosen Kapitulation noch
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