Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Frisur und ist vor allem genauso kräftig gebaut. Und obwohl sie genauso wenig singen kann wie die Masseuse massieren, tut sie es. Aber sie gibt sich damit nicht zufrieden. Nach ein paar Minuten holt sie sich einen Mann aus der ersten Reihe auf die Bühne. Er sträubt sich lange und verzweifelt. Aber er ist ein schmales Hemd und wird von Dongmei II einfach hochgezogen. Jetzt steht er verlegen grinsend da, während sie ihn falsch singend umtanzt. Zwischendurch macht sie immer wieder Pausen und stellt ihrem Opfer Fragen, die der Arme nicht zu beantworten weiß. «Drei Sachen will eine Frau von einem Mann. Weißt du, welche?» Der Schmale windet sich vor Scham und bringt dann gerade mal ein «Nein» hervor. «Okay», sagt Dongmei II, «ich sage es dir. Nummer 1: Der Mann muss der Frau schöne Sachen kaufen.» Den zweiten Frauenwunsch verstehe ich leider nicht, den dritten dafür umso besser. Die Dicke greift sich den Schmalen am Hosengürtel und macht ihn einmal symbolisch auf.
Jung und Alt im Publikum brüllen vor Begeisterung, und mein Nachbar erstickt vor Lachen fast an seinen Sonnenblumenkernen. Die Stimmung steigt, als Dongmei das Publikum fragt, ob der Schmale sich das Hemd ausziehen soll. «Er soll! Er soll! Er soll!», schreien die Leute. Der Schmale würde jetzt am liebsten sterben, doch als guter Chinese fügt er sich dem Wunsch der Masse. Dann zwingt die Dicke ihn, sich auf einen Hocker zu setzen. Sie selbst zieht sich das rote Negligé aus, wirft es mit großer Geste weg und beginnt wieder, den Mann singend zu umtanzen. Dabei schaut sie ihn schmachtend an und streicht ihm über die nackte Brust. Plötzlich aber dynamisiert sich die Szene. Die Dicke springt mit einem Satz auf die Knie ihres Opfers, zuppelt sich dann langsam in Richtung Schoß vor, wirft ihre Beine blitzartig um seinen Körper und lässt sich nach hinten fallen. Kopfüber singt sie weiter, während sie mit ihrem Unterleib Fickbewegungen simuliert. Das Publikum rast jetzt vollends.
Nach dieser Demütigung darf sich der Schmale von seinem Folterhocker erheben. Er lacht unsicher und hofft wohl, die Tortur sei vorbei. Doch kaum steht der Mann, umschlingt Dongmei seinen Hals noch einmal mit den Armen, hängt sich an ihn und macht es jetzt im Stehen, mindestens eine Minute lang. Es ist ein Wunder, dass der hagere Kerl unter dem Gewicht und den harten Stößen nicht zusammenbricht, doch er hält durch. Danach ist es wirklich vorbei. Der Schmale bekommt zur Belohnung eine Flasche Bier, muss aber Dongmei noch einen Kuss auf die Wange hauchen.
Der Schlusssong wird von dem Clown dargeboten, doch keiner hört mehr zu, weil alles schon zur Tür stürzt. Auch das ist eine Variante des schnellen chinesischen Abschieds. Ich aber bleibe noch ein bisschen sitzen und überlege: Das, was da auf der Bühne lief, ist doch wahrscheinlich auch das, was Dongmei in Yingshan normalerweise mit Männern macht. Warum aber wurde ich verschont? Es gibt eigentlich nur eine Erklärung: weil ich kein Chinese bin. Zum ersten Mal bin ich dafür dankbar.
Stille Tage in Wanzhou
Ein russisches Raketenboot und ein sowjetisches Kriegerdenkmal, eine Modenschau und ein säumiger Kunde, Phil Collins beim Friseur und Erinnerungen an Bielefeld: Das ist in diesem Kapitel auch schon alles.
Ich hoffe, niemand glaubt, dass ich Szenen wie die vorangegangene schildere, um von den Chinesen besseres Benehmen einzufordern. Nichts liegt mir ferner. Ich fühle mich viel wohler unter Leuten, die rotzen, schreien und rummüllen, als auf Partys und Empfängen in Peking, wo man wahlweise über Luftverschmutzung oder über DDT auf Gurken parliert. Deshalb begreife ich auch die seit ein paar Jahren laufende Kampagne der hiesigen Regierung bzw. des Zentralbüros zur Förderung der Zivilisation nicht, in der die Bevölkerung dazu aufgefordert wird, eine «zivilisierte Gesellschaft aufzubauen». In diesem zukünftigen China soll niemand mehr rotzen oder im Unterhemd auf die Straße gehen, jeder sich brav in der Schlange anstellen und freundlich sprechen und keiner mehr in Pantoffeln Auto fahren. Aber bedeutet diese Kampagne nicht in letzter Konsequenz, dass man behauptet, China sei in den letzten Jahrtausenden unzivilisiert gewesen?
Richtig auf die Nerven geht mir allerdings der Dauerregen. In der Nacht träume ich bereits von Wassergeistern, die mich in ihr Reich locken wollen. Am nächsten Morgen stehe ich am Pier und warte auf mein Boot. Um so schnell wie möglich aus der Regenhölle zu kommen, habe
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