Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
hoch, dass ihre Spitzen in schwarze Wolken ragen. Überhaupt ist es viel nebliger geworden, und fast sieht es so aus, als führe das alte Jangtse-Schiff nicht mehr auf dem Wasser, sondern über ein Wolkenmeer. Irgendwann wird mir diese Wolken-und Regenoper langweilig. Ich gehe zurück in meine Kabine, lege mich aufs Bett und döse ein. Beim Aufwachen klebt mir die Kleidung am Körper. Hier auf dem Fluss ist die Luftfeuchtigkeit so hoch wie noch nie auf dieser Reise. Ich bleibe noch etwas bematscht auf dem Bett liegen und lausche dem Regen, der jetzt in feines Nieseln übergegangen ist. Doch ist da nicht noch ein anderes Geräusch? Tatsächlich: Über den verrosteten Fußboden läuft ein dicker, fetter Kakerlak.
Was Kakerlaken angeht, so halte ich es mit dem chinesischen Schlager: Ich habe keine Angst vor ihnen. Ich ekele mich auch nicht. In Singapur habe ich immerhin zwei Jahre lang mit diesen sensiblen Tieren in einer Wohnung gelebt. Sie stören auch nicht weiter, solange sie keinen Lärm machen. Doch genau das ist bei manchen Kakerlaken ein Problem. Diese lautere, wohl auch dümmere Sorte macht Geräusche, hauptsächlich welche mit «a»: Sie schaben, schnarren, raspeln, rascheln, und zwar so laut, dass ich in meinen Singapurer Nächten nicht nur einmal davon wach wurde. An Schlaf ist dann nicht mehr zu denken, weil die Kakerlaken nicht eher Ruhe geben, bis man sie mit der Baygon-Spraydose erledigt hat. Also ermahne ich meinen neuen Gast: «Sei ruhig, dann passiert dir nichts! Sonst …» – «Allas klar!», sagt darauf schnell der Kakerlak.
Ich weiß natürlich, dass das nicht sein kann, aber anscheinend werde ich langsam wunderlich. Ich vermute, dass es an der ablehnenden Atmosphäre an Bord liegt. Und auch die Landschaft um mich herum ist nicht gerade Prozac. Nach Badong, der letzten Stadt in Hubei, beginnt die Wuxia, die Hexenschlucht. Hier drinnen ist es merklich dunkler, Wasserfälle stürzen links und rechts von den Felsen, dabei regnet es weiter ohne Unterlass. Über dem Wasser schweben große Libellen, im Wasser treiben Holz, Plastikflaschen und ein schwarzer Schlamm, der von abgestorbenen Bäumen stammen muss. Vorn am Bug ist es so still, dass ich die Vögel in den Wäldern zwitschern höre. Das einzige andere Geräusch ist ein trockenes Knacken. Es kommt vom Ruder, das der Steuermann auf der Brücke über uns laufend korrigiert. Es klingt, als würden dünne Knochen brechen.
Zum Glück öffnet um sechs die Bordkantine. Essen, denke ich, lenkt sicher von der Düsternis hier ab. In großen Blechschüsseln dampft Fleisch im Hirsemantel, Tofu, Wintermelonen, Bohnen und Nudeln; das alles wird mit einem großen Schöpflöffel von einer dicken Kellnerin in Styroporboxen ausgeschenkt. Ich hole mir eine Portion und setze mich an einen der Holztische. Kaum habe ich den ersten Bissen genommen, setzt sich ein junger Bursche zu mir. Er trägt eine dünne schwarze Lederjacke und hat ein paar seltsam gefleckte Narben im Gesicht. Er isst ein bisschen, steht dann auf und verlässt die Kantine schnurstracks in Richtung Kabinen. Mir fällt sofort das Danger-und-Disaster-Schild auf dem Zwischendeck ein und das Interview mit Jia Zhang-ke: Kein Zweifel, der Mann hier ist ein Verbrecher, das sieht man ihm doch an. Und ich Idiot habe meine Kabinentür nicht abgeschlossen. Ich packe sofort meine Styroporbox und folge dem Narbenmann. Auf dem Gang kann ich gerade noch einen Blick von ihm erhaschen. Dann verschwindet er in einer Kabine. Es ist nicht meine, sondern die Toilette. Ihm ist offenbar eingefallen, dass er vor dem Essen das Händewaschen vergessen hat. Ich schäme mich für meinen Verdacht, gehe aber trotzdem auf meine Kabine und löffele meine Styroporbox allein aus. Ich verlasse die Kabine erst wieder bei Einbruch der Dunkelheit, als das Schiff in Wushan anlegt. Die rund dreitausend Jahre alte Stadt ist dem Fluss zum Opfer gefallen, jetzt grüßt eine weiße, halb in den Wolken verborgene Hochhausfestung gleichen Namens von den Hängen wie ein neues Jerusalem. Auf einer großen Treppe, die auch bald überflüssig sein wird, steigen Menschen mit bunten Regenschirmen zum Anleger hinunter, während andere auf dem Weg nach oben sind. Es sieht aus wie ein Ballett von Robert Wilson. Nach zehn Minuten bläst das Schiffshorn dreimal, dreimal wirft die Schlucht ein langgezogenes Echo zurück. Die Passagiere schmeißen zum Abschied noch ein paar Nudelsuppenpackungen und Getränkedosen über Bord, dann fahren wir weiter in die
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