Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
so gern, dass es ihnen gar nicht einfiele, dabei Scham oder Scheu zu empfinden. Das ist auch der Grund, weshalb sie mich auf der Straße oder im Bus so lange und unverwandt anstarren. Selbst vor den größten Tragödien macht die Schaulust der Chinesen nicht halt. Ich habe einmal fünfzig meiner Nachbarn eine geschlagene Stunde auf die unverhüllte Leiche einer Selbstmörderin starren sehen, die in unserem Block in Peking aus dem fünfzehnten Stock gesprungen war und zermatscht auf dem Pflaster lag. Ich konnte diesen Anblick keine fünf Sekunden ertragen.
Am liebsten aber sehen die Chinesen anderen Leuten bei der Arbeit zu, und sei die Tätigkeit noch so unspektakulär. So hat sich auf dem Platz vor dem Wanzhouer Convention Center eine Gruppe von Leuten um zwei Arbeiter herum versammelt, die nichts anderes tun, als rund um eine Laterne Platten zu verlegen. Auch zu diesen Guckern stelle ich mich, und wir sehen uns gemeinsam an, wie die beiden Platten zuschneiden, Zement mischen, die Platten nochmals anpassen und schließlich mit dem Hammer festklopfen. Wofür, frage ich mich, brauchen sie in China eigentlich so viele Fernsehprogramme, wenn die meisten Chinesen schon mit so wenig Schauwert zufrieden sind?
Am frühen Abend gelange ich auf meiner Wanderung in den Wanzhouer Stadtpark, wo ich eine kleine Entdeckung mache. Hinter Bananenstauden und Gummibäumen verbirgt sich die Büste eines europäischen Mannes mit militärisch kurzen Haaren, die auf einem roten Sockel steht. Dahinter hat man eine Stele errichtet, an deren Spitze die Flaggen der Volksrepublik China und der Sowjetunion prangen. Die Fahnen überlappen sich, und über ihnen steigt eine weiße Taube in den Himmel. Von vorn ist die Stele mit chinesischen Zeichen beschriftet, doch hinten steht ein Text auf Kyrillisch, geschmückt mit Hammer und Sichel und dem Sowjetstern. Ich kann leider kein Russisch, aber wenigstens den Vornamen des Mannes entziffern, der hinter der Stele unter einem steinernen Sarkophag beerdigt liegt: Grigorij. Es muss der sowjetische Flieger sein, von dem ich schon gelesen hatte. Er gehörte zu einem Kontingent, das die Chinesen im Krieg gegen die Japaner unterstützte, 1939 ist er bei einem Luftgefecht in den Jangtse gestürzt. Das Denkmal wurde 1958 errichtet.
Die Geschichte an sich wirkt erst mal nicht bemerkenswert. Dass das Denkmal noch steht, ist jedoch ein kleines Wunder. Denn bereits Mitte der Sechziger kam es zum Bruch zwischen China und der Sowjetunion. Im März 1969 am Ussuri schossen chinesische und sowjetische Truppen sogar aufeinander, man stand kurz vor einem Krieg. Danach galt die Sowjetunion den Maoisten in China und auf der ganzen Welt als der schlimmste Feind aller Völker. Auch ich war selbstverständlich dieser Überzeugung. Ich nahm meinen dicken schwarzen Edding und textete Mitte der Siebziger auf Geheiß der Chinesen das Klo des Bielefelder Ratsgymnasiums mit Parolen zu, die sich reimten: «Nieder mit Breschnew, nieder mit Ford! Schluß mit Aggression und Völkermord!» Doch diese ganzen Zerwürfnisse hat das Mahnmal unbeschadet überstanden, und heute vertragen sich Chinesen und Russen einigermaßen. Das ist sicher auch besser.
Im Park fängt es wieder an zu regnen. Ich fliehe hinab zur Jangtse-Promenade, wo ein gerade fertig gebautes Indoorstadion steht. Es sieht aus wie ein Ufo oder wie ein halber, in der Mitte durchgeschnittener Fußball, unter der Wölbung bleibt man trocken. Auf diesem Platz wurde ein großer Biergarten eingerichtet, in dem ein paar hundert Leute auf Monobloc-Stühlen an Plastiktischen sitzen, Bier trinken und feuerrote Krebse essen. Zwei ältere Herren laden mich ein, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Einer der beiden sieht ein bisschen so aus wie Mao. Er zeigt mir, dass man die Krebse auch mit Schale essen kann, und lobt mich dafür, dass ich «Der Osten ist rot»-Zigaretten rauche. «Die kommen aus Hunan. Wie Mao», sagt er. «Ich weiß», lautet meine Antwort. Und damit ist das Gespräch beendet, auch wenn wir drei uns gerne weiter unterhalten würden. Aber leider taugt mein Chinesisch immer noch nicht für eine echte Konversation. Das ist wirklich schade. Wie anders, denke ich in letzter Zeit öfter, würde doch diese Reise verlaufen, wenn ich nur sprechen könnte. Natürlich war mir schon vor Beginn der Reise klar, dass ich nicht viel kommunizieren würde. Womit ich aber nicht gerechnet hatte, waren die Begleiterscheinungen dieser Isolation. Hatte ich auf dem Schiff nach Fengjie schon
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