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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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Schmalz befreit und ordentlich gewaschen. Die Chefin ist etwas enttäuscht, als ich verlange, dass sie mir mit der Maschine eine simple Glatze rasiert. So kann sie dem Laowai nicht zeigen, wie perfekt sie Kamm und Schere beherrscht. Nach dem Scheren wäscht eine Assistentin mir nochmal den Kopf, und dann bezahle ich zehn Kuai, gleich ein Euro, für das Ganze. So entspannt war ich schon lange nicht mehr. Am liebsten würde ich in China jeden Tag zum Friseur gehen, nur leider fehlen mir dazu die Haare.

    Am zweiten Tag versuche ich während einer längeren Regenpause, meine Straße wiederzufinden. Es gibt zwei Autobrücken über den Jangtse, aber keine, deren Position sich mit der 318er-Brücke auf meiner sonst ganz zuverlässigen Südchina-Karte deckt. Auf dem chinesischen Stadtplan von Wanzhou ist die Autobahn im Süden als 318 eingezeichnet, also marschiere ich dorthin, rund acht Kilometer außerhalb der Stadt. Ich will unbedingt wissen, wie weit ich auf meiner Straße bin. Eigentlich müsste ich ungefähr tausendsiebenhundert Kilometer westlich von Shanghai sein, würde es aber gerne präziser haben. Doch obwohl ich erst zwei Kilometer entlang der Autobahn und dann über die ganze Autobahnbrücke laufe, ist nichts Genaues in Erfahrung zu bringen.
    Natürlich ist mir bei dieser Aktion ein bisschen mulmig. Was soll ich bloß der Polizei erzählen, wenn sie mich mitten auf der Brücke anhält und fragt, was ich hier ganz allein mache? «Äh, also, die 318. Ich reise diese Straße von Shanghai nach Kathmandu. Und jetzt war ich längere Zeit weg, auf dem Fluss, Sie verstehen. Da wollte ich mal nachsehen, was die Straße so macht.» Die nehmen mich doch gleich mit. So würde das ganz sicher in Deutschland laufen, erst recht, wenn der Verwirrte ein Chinese wäre. In China aber fährt ein Polizeiwagen nach dem anderen vorbei, und niemand nimmt von dem komischen Ausländer auch nur Notiz.

    Am dritten Tag schauert es immer wieder. Ich gehe trotzdem raus und sehe mir an, was die Wanzhouer so machen. Es ist seltsam viel los in dieser Stadt, eventmäßig. Oben auf dem Platz vor der First Plaza präsentieren die chinesischen Topbrands Stava, Sanfu, Bobo und Ban Shen Yuan ihre Mode. Jungs machen mit ihren Handys Fotos von hübschen Models, die auf einem roten Teppich schlafanzugartige pinke Hosenanzüge und modische Pluderröcke präsentieren. Gleich dahinter ist eine höchstens fünf Meter lange Wettlaufbahn verlegt, auf der vier Eltern mit ihren Kindern um die Wette sackhüpfen. Eltern und Kinder stecken dabei im selben Sack, was den Hüpfenden eine hohe Koordinationsleistung abfordert. Drei Eltern-Kind-Kombinationen bringen sie auf, der vierte Sack aber kommt nach dem Startschuss nicht von der Stelle. Die Mutter ist beim Loshoppeln auf die Tochter getreten, und die heult fürchterlich.
    Friedlicher geht es in einer Fußgängerunterführung zu, wo eine Gruppe von etwa dreißig alten Leuten zusammen singt. Dabei werden sie von einem kleinen Orchester auf chinesischen Instrumenten begleitet. Der Chef des Ganzen ist ein Mann mit wenig Haaren, der mit seinem Zeigestock auf einer Flipchart, an der auf großen braunen Blättern Noten, Zahlen und Schriftzeichen geschrieben sind, zeigt, an welcher Stelle des Liedes man gerade ist.
    Fast noch mehr Spaß, als sich Chinesen anzugucken, macht es, sich mit Chinesen zusammen andere Chinesen anzugucken. So stelle ich mich an diesem Nachmittag mehrmals zu Gruppen von Schaulustigen, die sich aus den unterschiedlichsten Anlässen an diversen Punkten in der Stadt spontan versammelt haben. In der Guo-Ben-Straße, wo viele zweifelhafte Massagesalons liegen, stehe ich mit einer Gruppe von Männern rund eine halbe Stunde vor dem Fenster eines dieser Salons, in dem gerade Ungewöhnliches passiert. Die Vorhänge des großen Schaufensters sind zugezogen, dahinter bewegen sich hektisch Schatten. Zweimal versucht ein Mann, durch die Glastür nach draußen zu gelangen, doch die versperrt eine dicke Frau mit ihrem Körper. Später schiebt derselbe Mann den Vorhang vor dem Fenster kurz zur Seite und gestikuliert nach draußen, wird aber sofort wieder abgedrängt. «Will der nicht bezahlen?», frage ich einen neben mir stehenden Motorradtaxifahrer, der einen interessanten Helm aus geflochtenen Weidenzweigen trägt. «Genau», sagt der und lacht. Dann guckt er weiter.
    Vermutlich sind die Chinesen das schaulustigste Volk der Welt. Auf jeden Fall ist das ganze Leben für sie ein großes Spektakel. Sie gucken

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