Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
Vom Netzwerk:
mit einem Kakerlak gesprochen, rede ich jetzt immer öfter mit mir selbst. Als ich die neue Eisenbahnbrücke über den Jangtse sehe, sage ich: «Aha, das ist jetzt also die neue Eisenbahnbrücke.» Bisweilen entdecke ich rentnerhafte Züge in diesen Erklärungen, angesichts einer Baustelle sage ich: «Schön, schön, das wird ja jetzt bald fertig sein.» Oft ist das, was ich vor mich hin murmle, so schlimm und nervig, dass ich mir selbst den Mund verbiete: «Jetzt hör doch mal auf mit dieser elenden Quatscherei. Das, was du sagst, das sehe ich selber.»
    Ich frage mich, wo ich mit diesen schizophrenen Tendenzen noch enden werde. Allerdings habe ich nicht viel Zeit, darüber nachzugrübeln. Im Fernsehen wird an diesem Abend gemeldet, dass man in Hubei «roten Regensturmalarm» ausgelöst hat. Das ist jetzt nicht mehr lustig. Die Provinz ist von den schlimmsten Überflutungen seit fünfzig Jahren betroffen. Am Dreischluchtendamm wurden bereits alle Überlaufschleusen geöffnet, und in der Stadt Yunyang, zwischen Fengjie und Wanzhou, hat es schwere Erdrutsche gegeben. Hier hatte ich ursprünglich Station machen wollen, dann aber davon Abstand genommen, als ich erfuhr, dass der Name der Stadt «Wolkenverhangene Sonne» bedeutet. Besondere Sorgen macht mir, dass die Einschläge immer näher kommen: Im Distrikt Wanzhou der Stadt Chongqing, so wird gemeldet, wurde nach heftigen Regenfällen ein Bus von einem herabstürzenden Felsen getroffen. Dabei gab es sieben Tote.
    Südlich von hier aber soll das Wetter immer noch besser sein. Das bringt mich dazu, schon wieder meine Pläne umzuschmeißen. Ich werde erst einmal nicht weiter auf der 318 fahren, die von Wanzhou aus ziemlich direkt nach Westen geht, durch die verregneten Mingyue-Berge in die Provinz Sichuan. Stattdessen will ich einen Schlenker nach Süden machen, den Jangtse entlang bis nach Chongqing. Im Grund mache ich auch gar keinen Umweg. Wanzhou ist schließlich nichts anderes als ein Teil von Chongqing Stadt, und wenn ich jetzt nach Süden abdrehe, fahre ich nur mal kurz von der Vorstadt in die zweihundertdreißig Kilometer entfernte Innenstadt.
    Nachdem ich diesen Entschluss gefasst habe, gehe ich noch ein letztes Mal zur Uferpromenade hinunter. Es hat aufgehört zu regnen, und ganz Wanzhou scheint mit einem Mal wie verwandelt. Die neuen Hochhäuser, Brücken, die Piers und Passagierschiffe sind von Leuchtbändern eingerahmt oder werden mit Scheinwerfern angestrahlt; die Stadt funkelt im Wasser. Kein schlechter Anblick. Und so langsam beginne ich die eigentliche Dimension des Dreischluchtendamm-Projekts zu begreifen. Seit über zweihundertfünfzig Kilometern fahre ich jetzt schon an völlig neuen Städten und Uferanlagen vorbei, unter zahllosen neuen Brücken hindurch, die noch mehr neue Straßen miteinander verbinden. Auch hier am Ufer ist alles neu: die Promenade, die Plätze, die Parks, Skulpturen und Laternen. Addiert man all dieses Neue zusammen, dann ist der Damm, der bei Yichang auf mich keinen großen Eindruck machte, nicht bloß der größte Damm der Welt, sondern das größte Bauwerk aller Zeiten.
    Und den Wanzhouern scheint ihr Anteil an dem Riesenprojekt sichtlich zu gefallen. Die halbe Stadt flaniert mit mir an diesem Prachtufer entlang. Alte, Kinder, Arme, Reiche, Paare. Eine Gruppe Musiker macht Musik mit Erhus – traditionellen chinesischen Streichinstrumenten – und Flöten, ein paar Passanten tanzen dazu. Eine Dicke läuft im Schlafanzug vorbei, und eine Frau in einer glitzernden Paillettenbluse führt einen pink gefärbten Pudel spazieren. Zwei alte Männer reiben ihre Rücken an der Borke frisch gepflanzter großer Trauerweiden – das ist gesund –, ein junges Mädchen, das vorbeikommt, klatscht laut und rhythmisch in die Hände – auch das hält nach chinesischer Überzeugung fit. Es scheint, als seien von jedem, der hier draußen herumspaziert, die Mühen des Tages abgefallen, alles lächelt oder lacht, und niemand macht einen missmutigen, unzufriedenen Eindruck. Ich glaube, diese Menschen wirken auch deshalb so gelöst, weil sie alle sehen, dass das Leben besser wird und sie in einer der glücklichsten Epochen in Chinas Geschichte leben. Ja, denke ich, wahrscheinlich sind die Chinesen momentan das glücklichste Volk der Welt. Nur mich lassen sie dabei nicht richtig mitmachen.

In der Hölle
Der Held kommt in die Hölle. Ihm werden fürchterliche Qualen zugefügt. Die Übeltäter sind: ein buddhistischer Mönch, ein Englischlehrer, eine

Weitere Kostenlose Bücher