Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Musik gar nicht tanzen kann, ohne sich wie bei einem epileptischen Anfall zu bewegen. Nach zwei, drei Stücken will sich Emily, die Annabelle heißt, mit mir auf der Terrasse unterhalten. «Man kann mit Ausländern», sagt sie, «besser reden als mit Chinesen.» Aber dieses Mal wird es nichts mit dem guten Gespräch. Als wir gerade an der Stelle sind, dass Annabelle eigentlich gar nicht so genau weiß, was sie machen will im Leben, bekomme ich eine SMS, nach der ich mich hastig verabschieden muss. Der Text lautet: «Hi Chris, all permit in hand. See you tomorrow morning. 8 : 45 Bart.»
In dieser Nacht schlafe ich nicht besonders. Ich kann gar nicht glauben, dass es wirklich losgeht. Doch am nächsten Morgen kommt Bart pünktlich in die Lobby meines Hotels marschiert. Im Schlepptau hat er eine schlecht gelaunte Angestellte der Reiseagentur, die von mir das Geld kassieren will. In China wird fast alles bar bezahlt, und deshalb war ich in den letzten Tagen viermal am Geldautomaten, um die verlangten zwanzigtausend Yuan zusammenzukriegen. «Und was habe ich in der Hand, wenn ich ihr das Geld gebe?», frage ich Bart, denn bisher haben wir schließlich alles nur per E-Mail oder SMS verabredet. «Wieso?», fragt er zurück. «Es ist bei diesen Touren üblich, dem Veranstalter zu vertrauen.» Ich bleibe skeptisch und lasse ihn wenigstens das DIN-A4-Blatt unterschreiben, auf dem in Englisch die Reiseroute skizziert ist. Das wird mir zwar im Ernstfall nichts nützen, aber es gibt mir ein besseres Gefühl. Dann überreiche ich eine Plastiktüte mit zweihundert Einhundert-Yuan-Scheinen der Angestellten, die die Summe immer noch schlecht gelaunt dreimal nachzählt. Ich bin etwas beleidigt, nicht wegen des Nachzählens, sondern wegen der Flappe, die sie dabei zieht. Immerhin geht hier mehr als das Fünffache des Jahresverdienstes eines chinesischen Bauern über den Tisch. Da könnte sie wenigstens mal lächeln.
Danach geht alles erstaunlich schnell, wie so oft in China, wenn man lange auf etwas gewartet hat. Eine halbe Stunde später stehe ich mit Bart im tibetischen Viertel von Chengdu und schüttele die Hand eines stämmigen Mannes mit freundlichem, braungebranntem Gesicht und einer langen Nase. Die Nase ist in diesem Fall ein Zeichen dafür, dass es sich bei meinem Gegenüber um einen Tibeter handelt. «Das ist Dorje, unser Fahrer», stellt Bart vor. Dorje sagt nichts, er grinst mich nur an. Dabei verstaut er das Gepäck im Jeep, einem Mitsubishi aus chinesischer Produktion. Im Inneren riecht es ranzig. Es hängen seltsame Lappen und ein kleines Seidentäschchen am Rückspiegel, und aus der Seitentasche der Fahrertür ragt der Knauf eines tibetischen Dolches. Nur zehn Minuten später sind wir auf der Autobahn, die ein letztes Mal parallel zur 318 verläuft. Ich jubiliere und tiriliere innerlich. Tibet, here I come.
Natürlich wird das ab jetzt ein ganz anderes Reisen. Barts Plan sieht vor, dass wir zunächst vier Tage durch den permitfreien Westen Sichuans brettern und anschließend noch einmal vier Tage durch den Osten der Autonomen Region Tibet, wie die tibetische Provinz in China offiziell genannt wird. Wir werden also für die 2171 Kilometer nach Lhasa acht Tage brauchen. Das ist nicht schlecht, denn nur so kann ich meinen Reiseplan einhalten, heißt aber auch, dass ich von nun an nicht mehr jeden Ort so gründlich in Augenschein nehmen kann wie bisher. Es wird sicher auch weniger Begegnungen mit Einheimischen geben. Aber ich habe ja jetzt einen Chinesen mit an Bord, der sich um mich kümmern muss und dem ich auf der Fahrt sicher ein paar Geheimnisse des Chinesischseins entlocken werde. Und obendrein erklärt mir der Tibeter die Unterschiede zwischen seinen Leuten und den Chinesen. Meine Ausbildung zum Chinesen kann also weitergehen.
Vielleicht wird sie auch abrupt beendet. Schon zwei Stunden nach der Abfahrt unserer kleinen Expedition schaue ich nämlich zum ersten Mal dem Tod in die finsteren Augenhöhlen. Der Fahrer hat eine Autobahnausfahrt verpasst und ist zwei Kilometer zu weit gefahren. Für einen Tibeter offenbar kein Problem. Dorje wendet kurzerhand und fährt zurück, allerdings nicht auf dem Standstreifen, sondern ausgerechnet auf der Überholspur. Das geht so lange gut, bis uns kurz vor der verpassten Ausfahrt ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit entgegenkommt. Für Dorje ist das immer noch kein Grund zur Panik. Ganz ruhig hält er auf das andere Auto zu, als säße darin ein Gegner, den es auszuschalten
Weitere Kostenlose Bücher