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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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wird getanzt, so wie abends überall in China. Hier nehmen sich die Leute allerdings bei den Händen, während man im Rest des Landes einzeln tanzt. Auf dem Dorfplatz steht ein Denkmal, das an den Langen Marsch der Roten Armee erinnert. Genau hier vereinigte sich 1935 die Erste Armee unter Mao Tse-tung mit der Vierten, um danach gemeinsam weiter nach Norden zu ziehen. Doch zur Erforschung der chinesischen Revolutionsgeschichte bleibt auf einer schnellen Fahrt wie dieser keine Zeit.

    Allerdings hat eine organisierte Tour auch ihre Vorteile. Ich bin an meinem Tisch nicht allein, und ich esse endlich einmal etwas anderes als die Nudeln, die ich sonst meistens gewählt habe, weil ich die Speisekarten nicht lesen konnte. Bart bestellt leckeres Fleisch, Gemüse und Suppe, alles nach Sichuan-Art scharf gewürzt. Angenehm ist auch, dass mich die Leute auf der Straße mit «Hello»-Rufen verschonen. So gleichgültig wie in diesem Kaff ist man mir in China noch nie begegnet. Anscheinend ist meine Anwesenheit dadurch legitimiert, dass ich mit Führer und Fahrer unterwegs bin. Ich dagegen habe das genau entgegengesetzte Gefühl. Ich komme mir vor wie ein Eindringling, der sich seine Anwesenheit in dieser Stadt nicht rechtmäßig erkämpft hat.
    Auch wenn ich jetzt nicht mehr allein bin, kann ich das geplante Geheimnis-Entreißen wohl vergessen. Dorje ist zwar nett und freundlich, spricht aber kein Englisch und Chinesisch nur im für mich völlig unverständlichen Sichuan-Dialekt. Und auch Bart hat keine große Lust, mir was zu erzählen. Eigentlich hat er auf die ganze Fahrt keine Lust: «Ich wäre am liebsten im Büro geblieben», erklärt er. «Aber wir haben gerade unser erstes Kind bekommen. Ich brauche Geld.» Immerhin kann ich ihm aus der Nase ziehen, dass er Erziehungswissenschaft studiert und anschließend drei Jahre als Lehrer in Chengdu gearbeitet hat. In der Hoffnung, etwas Persönlicheres zu erfahren, bohre ich weiter: «Und deinen englischen Namen, wo hast du den her?» – «Den hat mir mein Englischlehrer gegeben. Ein Ire.» – «Und warum gerade Bart?» – «Das ist der zweite Vorname des irischen Premierministers.» – «Ähhh … Hast du mal was von den Simpsons gehört? Eine amerikanische Zeichentrickserie?» – «Nein, wieso?» Herrje, nach dem irischen Premierminister. Was für ein Missverständnis von Anfang an.

    Der nächste Jeep-Tag beginnt mit Musik. Sie kommt aus dem CD-Player, in dem Dorje seine drei mitgebrachten CDs spielt, eine nach der anderen und dann nochmal und nochmal. Auf einer ist recht annehmbarer tibetischer Reggae, der überraschend gut zur Landschaft passt. Viel lieber aber schiebt Dorje die anderen beiden CDs in den Player. Auf der ersten gibt es zu meinem Entzücken gleich drei Versionen meiner moldawischen Reisehymne «Dragostea Din Tei» – das Original, die chinesische Kakerlakenfassung und dann noch einen Remix. Doch Dorjes absolutes Lieblingsstück ist das alte buddhistische Mantra «Om mani padme hum» auf CD drei, in einer süßlich verpoppten Schlagerfassung. Damit es besser zur Melodie passt, singt die Sängerin das «mani» doppelt und verschluckt das «padme». Das hört sich dann an wie: «Oh money money come.» Eigentlich keine schlechte buddhistische Hymne.
    Zu diesem Soundtrack umfahren wir den Yala, einen fast sechstausend Meter hohen Berg, dessen weiße Gletscher in der Sonne funkeln. Danach kommen wir ins Tagong-Grasland, eine weite grüne Ebene auf dreitausendfünfhundert Metern. Hier machen wir den ersten größeren Stopp, und ich habe Zeit, mir im Dorf Tagong die fremdartigen Bewohner dieser Gegend genauer anzusehen. Seit unserer Passfahrt gestern befinden wir uns in Kham, dem Osten des tibetischen Hochplateaus. Diese Region wird hauptsächlich von Khampa-Tibetern bewohnt, die entschieden wilder aussehen als Chinesen. Viele Männer tragen lange, eingeölte Haare, um die sie rote, mit Yakknochen und Korallen geschmückte Kopftücher gebunden haben. Manche haben auch noch einen Cowboyhut auf dem Kopf, und an einigen Gürteln baumeln Dolche oder Messer. Sie müssen die Flinten und Pistolen ersetzen, die jeder Khampa-Mann noch vor ein paar Jahren sein Eigen nannte.
    Damals legten sich die Khampas mit allen an, die versuchten, sie zu beherrschen, und selbst die tibetische Regierung in Lhasa hatte die Region niemals wirklich unter Kontrolle. Kein Wunder, dass diese rebellischen Leute dort keinen guten Ruf hatten. «Gleichbedeutend mit ‹Räuber›», schreibt der

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