Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Räuber nicht mehr geben», heißt es zum Beispiel oder: «Dass das Volk hungert, kommt davon her, dass seine Oberen zu viele Steuern fressen.» Mao hätte das kaum besser sagen können. Ich frage mich nur, wie ich bei einer Konversion das Frisurproblem lösen soll. Mit meiner Haartracht könnte ich zwar jederzeit ein buddhistischer Mönch werden, aber niemals Daoist. Der Zug ist vor spätestens zwanzig Jahren abgefahren.
Die Frisurenfrage löst sich noch in der Nacht, als ich meine Konversionsidee wieder aufgebe. Schuld daran sind die daoistischen Pilger im Nebenzimmer. Sie fangen am Abend gegen neun an, Bier zu trinken und Mah-Jongg zu spielen. Dabei lachen und lärmen sie. Sie knallen ab und an einen Stein auf das Brett, und alle zehn Minuten werden die Steine unter großem Geklicker und Geklacker neu gemischt. Ich aber bin erschöpft vom Tag und muss dringend schlafen. Daran ist bei dem Krawall nicht zu denken, und binnen kurzer Zeit entlädt sich meine gerade erworbene Körperenergie wieder. Als ich gegen eins schon deutlich im Minusbereich bin, gehe ich rüber, um mich zu beschweren. Meine Quälgeister sind zwei mittelalte Paare, die in ihren Schlafanzügen stecken und auf den Betten sitzend spielen. Wütend frage ich, ob ich wenigstens die Tür schließen kann, und ohne eine Antwort abzuwarten, ziehe ich sie mit einem lauten Knall zu. Das ist ein sehr unchinesisches Verhalten, und während ich wieder auf mein Zimmer gehe, höre ich die beiden Pärchen kichern. Das bringt mich erst recht in Rage. Was denken sich diese Leute eigentlich? Wir fahren ins Kloster, trinken einen und machen durch bis morgen früh? Nein, bei einer Religion, die solche Pilger hat, kann ich leider doch nicht mitmachen.
Am nächsten Morgen schäme ich mich ein bisschen für meine kleinbürgerlich beschränkte Reaktion. Sie zeigt deutlich, dass ich etwas Prinzipielles im Verhältnis der Chinesen zur Religion nicht verstanden habe. Richtig klar wird mir das am Nachmittag, als ich vor dem Laozi-Altar einen lustigen Zwischenfall beobachte. Zwei junge Frauen fangen hier aus heiterem Himmel an, sich gegenseitig anzukeifen. Ich verstehe kaum ein Wort, bloß, dass es um Geld und Betrug geht. Wie immer bei solchen Gelegenheiten bildet sich sofort eine Traube aus Schaulustigen, die sichtlich vergnügt auf eine gute Show hofft. Doch diese Traube ist besonders. Auch zwei Ausländerinnen sind in der Menge, dem Augenschein nach Spanierinnen in etwas zu knappen Tops.
Die Spanierinnen aber wollen sich nicht an dem Streit erfreuen, sondern Frieden stiften. Sie glauben, das gehe am besten, wenn sie den beiden Streitenden klarmachen, dass sie sich an einem heiligen Ort befinden. Deshalb zeigen sie immer wieder mit betroffenem Gesicht auf die Laozi-Skulptur. Sie falten auch demonstrativ die Hände, halten sich den Zeigefinger vor die zusammengepressten Lippen und rollen mit den Augen. Als das alles nicht hilft, packt eine Friedensstifterin eine der Kampfhennen am Arm und zerrt sie Richtung Altar. Doch die Keifende reißt sich sofort los, läuft zu ihrer Gegnerin zurück und knallt ihr überraschend eine. Die umherstehenden Chinesen sind begeistert, die beiden Spanierinnen aber verdoppeln entsetzt ihre pantomimischen Anstrengungen. Am Ende gibt die Geohrfeigte nach, zieht ein Bündel Hundert-Yuan-Scheine aus der Handtasche und zahlt ihrer Angreiferin die verlangte Summe. Dann ziehen beide Hauptakteurinnen ab. Die Menschentraube aber diskutiert das Geschehene noch eine Weile. Anders als die Europäerinnen scheint keiner diesen Streit unter den Augen eines Gottes für Blasphemie zu halten. Im Gegenteil: «Wie wahnsinnig schnell sie zugeschlagen hat», kommentiert eine alte Frau. Es klingt anerkennend.
Auch diese Geschichte zeigt sehr deutlich, wie pragmatisch die meisten Chinesen mit Religion umgehen. Man betet gerne und viel zu diversen Göttern, um Beistand in Krisen zu erhalten oder um sich Wünsche erfüllen zu lassen. Kommt es aber hart auf hart, verlässt man sich lieber auf sich selbst, und der Gott verwandelt sich in das Stück Holz zurück, aus dem er geschnitzt ist. «Die Chinesen», habe ich in einem französischen Buch von 1897 gelesen, das ich zufällig im Stadtmuseum von Chongqing an dieser Stelle aufgeschlagen fand, «sind zur gleichen Zeit die abergläubischsten als auch die skeptischsten Menschen der Welt.» Und das ist sicher besser, als sich und andere aus religiösen Gründen in die Luft zu sprengen oder Kreuzzüge anzuzetteln.
Ich
Weitere Kostenlose Bücher