Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
schon vorher gespürt und versucht, sich ins Trockene zu bringen.
Beim Abstieg lässt der Regen wieder nach, und durch den feinen Niesel bewegen sich vier blaue Schmetterlinge langsam auf mich zu. Sie flattern zugleich torkelnd umeinander, wobei jeder Schmetterling genau den gleichen Abstand zu den anderen hält. Die Schmetterlinge sehen aus wie Lichter auf unscharfen UFO-Videos, und kurz glaube ich, sie wollen mich angreifen. Im letzten Moment aber drehen sie vor mir ab und verschwinden spurlos im Wald.
Das Kloster, die Kleidung, die Philosophie und der ganze verzauberte Berg haben mich auf die Dao-Seite gezogen. Selbst die ausgefallenen daoistischen Götter ziehe ich den ganzen stumpf lächelnden Buddhas vor. Ähnlich wie die Gottheiten der alten Griechen oder Römer sind sie ziemlich actionorientiert und könnten in jedem modernen Superhelden-Comic oder Videospiel eine tragende Rolle übernehmen. Sie reisen auf Drachen durch den Himmel, gebären Sterne, oft waren sie zuvor Menschen, die nach einer Weile fliegen lernten und unsterblich wurden. Der ganze Götterkosmos hat allerdings nichts mit dem «Dao De Jing» zu tun, sondern wurde zum größten Teil von Religionsgründer Zhang Daoling um 140 n. Chr. hier auf dem Berg geschaffen. Dabei bediente sich der Mönch bei der sehr viel älteren chinesischen Volksreligion, in der es von Spezialgottheiten und Heroen nur so wimmelt. Ein paar Jahrhunderte später wurden dann noch etliche, nur grob umgemodelte buddhistische Heilige mit aufgenommen.
Dennoch bleibt der Daoismus die ursprüngliche chinesische Religion mit den chinesischeren Göttern. Der chinesischste ist sicher Huang Di, der Gelbe Kaiser, dessen etwas tiefer gelegenen Schrein ich am zweiten Tag besuche. Er hat das Unmögliche vollbracht, gleichzeitig der Stammvater aller Chinesen zu sein und sie um 2700 v. Chr. geeint und für hundert Jahre regiert zu haben. Auch sonst war der Gelbe Kaiser ein rechter Alleskönner. Er hat ein Medizinbuch geschrieben, das heute noch die Grundlage der traditionellen chinesischen Medizin ist, brachte den Chinesen das Züchten von Seidenraupen bei, erfand den chinesischen Mondkalender und einen magischen Kompass, der ihm half, seine Armeen im Sandsturm zu verbergen. Und als er genug regiert, gelehrt und gekämpft hatte, wurde er unsterblich.
Der große Dao-Hit aber ist die Qi-Sammelplattform, die ich kurz vor Sonnenuntergang am schönsten Ort auf dem ganzen Berg entdecke. Dieser Ort ist der Garten des Palastes der höchsten Reinheit, und die Plattform ist eine kleine, ummauerte Terrasse, die am Rand dieses Gartens zwischen blühenden Rosen, Dahlien und Fuchsien liegt, direkt am Eingang zum Wald der Langlebigkeit, in dem Eichhörnchen von Zeder zu Zeder springen. Vor Hunderten von Jahren, so erklärt ein Schild, hat sie die daoistische Unsterbliche Ma Gu angelegt, um hier das Qi, die daoistische Lebensenergie, in ihren Körper aufzunehmen. Qingcheng Shan, so heißt es weiter, sei nämlich ein extrem gutes Qi-Gebiet, und genau an der Sammelplattform falle noch einmal extra viel Qi an. Ma Gu muss diese Energie gut genutzt haben, denn sie «erlebte dreimal, wie sich ein See in Ackerland verwandelte», und sah trotzdem noch aus wie eine junge Frau. Von anderen Leuten wird berichtet, dass sich «aller Schleim von ihnen löste», als sie sich auf die Plattform stellten. Und hinterher waren sie ganz leicht. Das muss ich doch gleich mal ausprobieren.
Ich hüpfe auf die Plattform, stelle mich in die Mitte des in den Boden geritzten Yin-und-Yang-Zeichens, breite meine Arme aus und warte auf das Qi. Nach ein paar Minuten beginne ich tatsächlich etwas zu spüren. Zwar löst sich kein Schleim – wo auch, frage ich mich etwas bang –, aber ich fühle, wie sich meine Muskeln entspannen und mich irgendetwas durchströmt. Als ich zehn Minuten später die Plattform wieder verlasse, fühle ich mich frisch, belebt und um mindestens drei Kilo leichter.
Das Gefühl ist so sensationell, dass ich für mich noch in derselben Minute entscheide: Daoismus, da mache ich jetzt mit. Eigentlich ist es ja auch kein großer Schritt von meinem alten Maoismus zum Daoismus. Nicht nur, weil beides chinesisch ist und man nur einen Buchstaben austauschen muss, um das jeweils andere zu haben. Laozi und Mao sind immer wieder auch inhaltlich gar nicht so weit auseinander, wie man gemeinhin denkt. Das «Dao De Jing» jedenfalls ist voll von revolutionären Stellen: «Werft weg den Gewinn, so wird es Diebe und
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