Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
gilt. Erst im letzten Moment weicht er aus, zieht über die ganze Breite der Fahrbahn zur Ausfahrt rüber und raus auf die 318 – bei Kilometerstein 2639.
Barts Plan sieht vor, dass wir von hier aus erst einmal einen großen Schlenker zurück nach Norden machen, bevor wir in zwei Tagen rund zweihundertfünfzig Kilometer weiter westlich zur 318 zurückkehren. «Besonders schön da oben», ist Barts maulfaule Begründung für den Umweg, aber er hat recht. Kaum sind wir von der Autobahn runter, kommen uns auf einer schmalen Wacholderbaumallee zwei Reiter entgegen. Der bunten Tracht nach zu urteilen, handelt es sich um Tibeter. Nachdem wir die kleine Stadt Lushan hinter uns gelassen haben, wird die Gegend noch malerischer und auch etwas schroffer. Der Jeep wird von einer tiefen Schlucht verschluckt, auf deren Grund sich ein nebeldampfender Fluss windet. Ein paar Kilometer später geht es wieder hinauf in die Berge, wo unterhalb der kleinen Straße ein großer grüner Stausee schimmert. Laub-und Nadelwald wechseln sich ab, dazwischen liegen grüne Wiesen. Dieser Teil Chinas sieht radikal anders aus als alle Landschaften, die ich bisher auf dieser Reise gesehen habe. Schöner, imposanter, unbenutzter.
Doch all das ist bloß der Auftakt zu einer großen Landschaftssymphonie. Die Berge werden höher und höher. Die Hänge links und rechts sind von schweren Bergrutschen und breiten Gerölllawinenstreifen gezeichnet, auf denen kein Strauch mehr wächst. Und dann ist da ein paar hundert Meter über uns ein schmaler Strich – eine offenbar brandneue, ungeteerte Straße. Irre, denke ich, in einer solchen Höhe eine gegen Bergrutsche vollkommen ungesicherte Straße zu bauen. Welche bedauernswerten Menschen wohl darauf fahren müssen? Eine halbe Stunde später weiß ich: Wir sind die Bedauernswerten. Die Straße ist in einem wirklich miserablen Zustand. Immer wieder versperren vom Berg gerutschtes Geröll und große Steine den Weg. Und während wir höher und höher steigen, fällt die Temperatur auf dem Außenthermometer des Jeeps immer tiefer.
In Chengdu waren es fünfundzwanzig Grad, beim Einbiegen in die Passstraße nur noch fünfzehn. Bei elf Grad fängt es an zu regnen. Die Geröllpiste verwandelt sich im Nu in eine Schlammbahn, durch die sich der Jeep im Allradgang mühsam vorwärtswühlt. Aber selbst das scheint meinem unbekannten Reisegott an Hindernissen nicht zu genügen. Hinter der nächsten Hundertachtzig-Grad-Kurve schickt er uns auch noch Wolken. Jetzt beträgt die Sicht keine zwanzig Meter mehr. Immerhin verbessert sich Dorjes Fahrstil, je schlechter die Straße wird. Wie schnell er reagieren kann, beweist er, als aus dem weißen Wolkennichts ein großer Laster auf uns zuschießt. Dorje bremst noch im selben Sekundenbruchteil, genauso wie der LKW-Fahrer, sodass die beiden Kühlerhauben kurz voreinander zum Stehen kommen. Das ist mein zweites Nahtoderlebnis innerhalb von sechs Stunden. Beim dritten ist man ja wohl fällig.
Ein Yak ist Zeuge des ganzen Vorgangs. Das zottelige Vieh steht nur zehn Meter entfernt, direkt an einem tiefen Abgrund, und starrt mich aus dunklen Augen mitleidig an. Dann ist es wie ein Gespenst sofort wieder im Wolkennebel verschwunden. Wir kämpfen uns vor bis zum höchsten Punkt des Passes. Die Temperatur ist auf fünf Grad gefallen, und als ich mich zum Pinkeln an den Straßenrand stelle, schwindelt mir so, dass ich fast in den Graben kippe. Das muss die dünne Luft sein. «Wie hoch sind wir eigentlich?», frage ich meinen exklusiven Reiseführer. Bart hat keine Ahnung. Und meine Karte sagt mir bloß, dass der Gletscherberg gleich nebenan 5457 Meter misst.
Nach dem Pass wird die Straße besser, und auch die Sonne kommt zurück. Als es dämmert, sitzen wir zu dritt in der Kleinstadt Xiaojin in einem Restaurant. Ich bin vollkommen erledigt, obwohl ich praktisch die ganze Zeit untätig im Jeep gesessen habe. Aber wir sind auch zehn Stunden gefahren und haben mindestens dreihundert Kilometer zurückgelegt. Das ist Tagesrekord. Dafür sind wir nirgendwo länger als fünf Minuten geblieben, sieht man einmal vom Mittagessen ab. Auch von dieser Stadt, die malerisch über einer tiefen Schlucht hängt, bekomme ich kaum etwas zu sehen außer dem Hotel, dem Restaurant und der Straße, auf der wir zwischen beiden Lokalitäten hin-und hergehen. Dabei ist sie nicht uninteressant. Die Häuser haben alle tibetisch bunte Fassaden, und in tausend Kästen und Kübeln wachsen Blumen. Auf dem Dorfplatz
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