Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
vor, von nun an die 318 bis Lhasa nicht mehr zu verlassen. Damit reisen wir jetzt auch auf einer historischen Route. Vor über tausend Jahren wurde auf der heutigen Trasse der 318 die sogenannte Tee-Pferd-Straße etabliert, auf der die Tibeter ihre Pferde in den Osten Chinas brachten, um sie gegen Tee zu tauschen. Später ließen die Qing-Kaiser diesen Pfad zu einer Poststraße ausbauen, mit Poststationen von Lhasa bis nach Peking. Zur richtigen, durchgehend befahrbaren Straße wurde die schmale Trasse aber erst, als auf Weisung Mao Tse-tungs im April 1950 die Volksbefreiungsarmee mit dem Bau des Xikang-Tibet-Highways begann, der später in Sichuan-Tibet-Highway umbenannt wurde. Die Südroute dieser Straße bekam die Ordnungszahl 318 und erreichte im Dezember 1954 Lhasa. Damit war die tibetische Hauptstadt erstmals an das chinesische Straßennetz angeschlossen.
Natürlich war die Straße damals kaum mehr als eine ungeteerte Piste. Und das ist sie, wie ich feststelle, streckenweise noch heute. Auch dort, wo sie in einem besseren Zustand ist, ist sie nicht mit den autobahnähnlich ausgebauten Streckenabschnitten zu vergleichen, auf denen ich bisher gefahren bin. Diese Straße hier ist so breit wie eine kleine Stichstraße in Europa und hat nur eine Spur für jede Richtung. Doch mehr müssen es auch nicht sein. Ich hatte erwartet, dass auf dieser wichtigen Versorgungslinie ein Lastwagen nach dem anderen in Richtung Lhasa brettert. Doch wenn wir alle zehn Minuten mal einen mit Buddhabildern geschmückten Laster überholen, ist das schon viel. Am häufigsten wird die Nationalstraße von Mopeds benutzt, ganze tibetische Familien sind auf ihnen unterwegs oder junge Khampa-Burschen mit wehenden Haaren, die auf ihren Zweirädern sitzen wie ihre Vorfahren einst zu Pferde.
Die Landschaft aber, durch die die Straße führt, übertrifft auch heute wieder alles, was ich bisher an der Strecke gesehen habe. Am Morgen wird die lange, sonnendurchstrahlte Pappelallee, über die wir gerade fahren, von einer Herde Dzos überquert, das sind Yaks, die mit Hauskühen gekreuzt wurden und mehr Milch geben. Später geht es parallel zu einem seichten Fluss. Ein paar Kilometer weiter ist daraus an einer engen Stelle ein tosendes Wildwasser geworden, umstanden von dunklen Kiefernwäldern. Hauptsächlich aber fahren wir karge Berge hoch, in endlos sich hinaufschraubenden Serpentinen. Beiderseits der Straße stehen hier die schwarzen Zelte der tibetischen Nomaden neben den Herden von Dzos und Yaks, die sich als schwarze Punkte auch über unendliche Bergwiesen verteilen. Am Ende erreicht der Jeep dann immer wieder einen Pass, dessen höchste Erhebung unter einem Wirrwarr von frischen und verrotteten Gebetsfahnen fast verschwunden ist. Danach geht es auf der anderen Seite wieder runter, ebenfalls in kilometerlangen Serpentinen, und dann wieder rauf zum nächsten Pass.
Als wir Kilometer dreitausend erreichen, spielt der Player einmal mehr die Kakerlaken-Version meiner Reisehymne. Die Straße verläuft hier auf einem Berg, von dem aus wir ein Meer von Bergen und Tälern mit frisch aufgeforsteten Fichtenwäldern überblicken können. Ich lasse Dorje anhalten, setze mich auf den Kilometerstein, und Bart macht ein Foto von mir, auf dem ich versuche, wie ein Abenteurer zu gucken. Ich glaube, mich überkommt auch so etwas wie Stolz, was ein bisschen idiotisch ist, denn dreitausend ist ja bloß eine Zahl. Immerhin habe ich jetzt schon eine Entfernung zurückgelegt, die der von Moskau nach Barcelona entspricht. Andererseits liegt noch einmal so viel China vor mir. Natürlich hatte ich vorher versucht, mir das vorzustellen, doch ich glaube, auf diesem Stein wird mir erst klar, wie groß dieses Land wirklich ist.
Mit der vollen Dreitausend aber ist es für heute erst einmal genug. Ein paar Kilometer hinter dem Stein biegen wir nach links ab und fahren einen kleinen Weg hinunter in ein entlegenes Tal. Auf dessen Grund liegt ein kleines Dorf von vielleicht fünfzig Häusern, darunter auch eine Pension, in der wir übernachten wollen. Das aus Naturstein und Holz errichtete neue Haus ist im Vergleich zu chinesischen Wohnungen großzügig geschnitten und erstaunlich geräumig. Unten wohnt die Khampa-Wirtsfamilie in einer großen Stube neben ihren Yaks, im ausgebauten Obergeschoss wir. Die Wände des Flurs und der Zimmer sind bemalt mit bunten Fabeltieren: Schneelöwen, rosa Drachenelefanten und Karpfen, die wie Robben auf Flossen gehen.
In den beiden letzten
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