Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
ist George eine Art Sozialist, während ich der reinste Kapitalist bin. Und an diesem Bild stimmt etwas nicht.
Ja, ich weiß: Mir gehören Goldman Sachs, AT&T, Macy’s, Verizon und American Airlines, und die Außenpolitik der US-Regierung kontrolliere ich auch. Aber auch ich habe Schulden, der Irakkrieg kostet mich ein Vermögen!
Ich komme mit George einfach nicht weiter, solange wir über Finanzen sprechen. Ich muß das Thema wechseln. Eine fürchterliche Stille herrscht zwischen uns, dem gierigen Amerikaner und dem rechtschaffenen Europäer. Worüber soll ich mit ihm reden? Nun, warum nicht über mein Lieblingsthema: die Deutschen.
Was halten Sie von den Deutschen? Sie leben hier seit vielen, vielen Jahren –
»Die Deutschen sind konsensgesteuert, alles in allem nicht sehr charmant, nicht besonders humorvoll, schwerfällig und streng, unglaublich organisiert, ausgezeichnete Ingenieure, keine wirklich guten Bankiers, zum Extremismus neigend, und viele von ihnen haben eine angeborene Grausamkeit bewiesen.«
Wow!!! Irgend etwas Gutes?
»Sie haben fantastische Musik und Literatur geschaffen.«
Was meinen Sie mit »konsensgesteuert«?
»Alles muß im Konsens entschieden werden. Die Chefs zusammen mit den Angestellten, die Firmen mit den Gewerkschaften. In jedem Bereich der Gesellschaft. Sie entscheiden alles gemeinsam.«
Soll ich George von meiner Vereinstheorie erzählen? Nein, noch nicht. Ich möchte sie erst noch ein wenig überprüfen und verifizieren, bevor ich sie auf die Welt loslasse.
George verabschiedet sich, um noch mehr Geld zu verdienen, und ich bleibe mit einer Frage im Kopf zurück: Was ist das für ein starker Trieb, der Trieb zum Geld, von dem wir alle so besessen sind?
Der sinnvollste Ort auf der Welt, um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müßte doch der hiesige Tempel des Geldes sein.
Ich mache mich auf den Weg zur Frankfurter Börse.
Ich schulde den guten Menschen von der Deutschen Börse, wie sie hier heißt, Dank. Sie meinen es gut mit mir und sorgen dafür, daß ich meine Ruhe habe und nicht zusammen mit den plappernden, brabbelnden und ihre klickenden Digitalkameras auf einfach alles richtenden Touristen hier herumlaufen muß. Ich bekomme eine »Privatführung«. Ich brauche sie. Ich brauche Zeit, um über den Allmächtigen Euro zu meditieren. Ich möchte mit dem Allmächtigen Euro eins werden, ich möchte wiedergeboren werden, um zu hören, wie Seine Stimme mich ruft, und um mich Ihm ganz hingeben zu können. Dafür brauche ich eine ruhige Umgebung.
Ich bin ebenfalls dankbar dafür, daß sie den Sicherheitsbediensteten abgezogen haben, dessen Sicherheitsatem ich im Nacken hatte. Jetzt gibt es nur noch mich und den Allmächtigen. Ich bete zu Ihm: Gesegnet seist Du, Allmächtiger Euro, gepriesen sei Dein Name.
Eine Etage unter mir, die ich komplett einsehen kann, ist die Armee des Allmächtigen stationiert: die Börsenmakler. Viele von ihnen werden diesen Ort in etwa zwei Jahren verlassen, weil dann Maschinen den Großteil des Handels abwikkeln werden. Jetzt aber sind sie noch hier und handeln alle mit verschiedenen Aktien. Einer handelt mit BMW-Aktien, ein anderer mit Siemens und so weiter.
Schauen wir uns die Soldaten des Allmächtigen einmal an. Der da links surft im Netz, der da rechts macht irgend etwas mit seinem iPhone, ein weiterer trinkt Kaffee, und ein athletischer Typ guckt, was sonst, Fußball, während zwei Damen in ein lebhaftes Gespräch vertieft sind.
Dafür, daß es sich um eine Armee handelt, ist es eine einzige Show. Die großen elektronischen Anzeigetafeln überall mit ihren Börsenkürzeln dienen lediglich theatralischen Zwekken. Kein Makler würdigt sie eines Blicks. Die Händler, von denen jeder vor sechs Bildschirmen und zwei Tastaturen sitzt, würden es nicht einmal bemerken, wenn die Tafeln ausgingen oder die Kurse plötzlich auf hebräisch oder altgriechisch anzeigten. Aber Theatralik ist gut fürs Geld. Nicht wenige Medien haben sich hier eingerichtet. Ich sehe unter anderem Deutsche Welle-TV und CNBC zu meiner Linken sowie Reuters und das Deutsche Anleger Fernsehen vor mir. Wenn man das Ganze von hier oben aus in echt sieht, muß man darüber lachen, wie »billig« das alles ist. Aber im Fernsehen macht es wahrscheinlich etwas her.
Was man an diesem Ort nicht ignorieren kann, ist die Fahne. Sorry, sind die Fahnen. Deutsche Fahnen, wohin man schaut. In jeglicher Größe und in jedem Winkel. An Wänden, Stühlen, Tischen. Deutschland ist in
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