Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)
er sich der schleichenden Wirkung, die diese hier auf ihn ausübte, hätte bewusst werden können.
Nicht, dass die beiden Frauen außer ihrer blonden Haare mehr als nur eine oberflächliche Ähnlichkeit aufwiesen. Die exquisite Nymphe, die sich in dem vor Schmutz starrenden Schrank auf dem Dachboden versteckt hatte, war kleiner als Miss Grey. Ihr Haar war ihr in goldenen Locken über den Rücken gefallen, ganz anders als diese glatte, gestrenge, blassblonde Hochsteckfrisur, die er jetzt so nahe vor sich hatte. Sie hatte vor Furcht gezittert und nicht aus verhaltener Wut, wie diese junge Frau hier es angesichts seiner Neugier oder Ablehnung tat.
In Gedanken wies Nick sich selbst zurecht. Er hatte es seiner Vorstellungskraft zu oft erlaubt, sich diesem nackten Mädchen zu widmen. Zeitweilig hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, ins Atelier zurückzukehren und nach ihrem Namen und ihrer Adresse zu fragen, so besessen war er von ihr. Nur seine angeborene Zurückhaltung hatte ihn davon abgehalten. So etwas zu tun, hätte ihm das Gefühl gegeben, auch nicht besser zu sein als Jack Hemsley.
Hatte das Aktmodell ihn etwa blind gemacht? Wie sonst hatte er die bezaubernden, weiblichen Reize unmittelbar vor seiner Nase nicht wahrnehmen können? Doch ja, ihr Vorwurf, nur das Mädchen einer Hutmacherin zu sehen, war gerechtfertigt. Wie hatte es ihm nur passieren können, dass ihm die bezaubernde Gestalt, die sich unter dem schrecklich aussehenden Umhang verbarg, nicht aufgefallen war? Entschlossen unterdrückte Lord Arndale die Vorstellung, wie Miss Grey nur mit einer Bahn weißen Leinens bekleidet aussehen mochte, und lächelte in die herausfordernden grünen Augen.
„Ich beuge mich selbstverständlich dem guten Urteilsvermögen meiner Tante. Können wir nicht einen Waffenstillstand ausrufen, Miss Grey? Schließlich haben wir uns doch vorhin, nachdem Sie von Ihrem Glück erfahren haben, ganz gut verstanden, oder?“
Ja, er hatte es sich erlaubt, sich in ihrer Gegenwart zu entspannen, nur noch die unschuldige junge Dame zu sehen, die durch widrige Umstände gezwungen wurde, für sich selbst einzustehen. Er hatte zugelassen, dass sie ihn durch die Art und Weise, wie sie auf die Konfrontation mit dem Anwalt reagiert hatte, vollkommen eingewickelt hatte. Das Gefühl ihres flatternden Pulses unter seinen Fingerspitzen kehrte zurück, und er ballte die Hände, um das Beben zu unterdrücken.
Sichtlich zögernd nickte sie, hielt seinem Blick jedoch stand. Sie waren sich so nahe, dass sie den Kopf unangenehm weit in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen, sie bewegte sich indes nicht von ihm weg. Nick überkam plötzlich das Gefühl, als würde sie seine Aufmerksamkeit bannen, ihn von etwas ablenken wollen, das sie verzweifelt zu verbergen suchte.
Er unterbrach den Augenkontakt, trat abrupt einen Schritt zurück und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Nichts.
„Überzeugt davon, dass ich nicht das Silber gestohlen habe?“, fragte sie eisig. Sie bückte sich, hob ihre Haube auf und befestigte die Bänder mit einem Ruck. „Dieser Waffenstillstand hat ja nicht lange gehalten, oder, Mylord?“
„Der Waffenstillstand wird so lange anhalten, wie ich davon überzeugt bin, dass Sie nichts verbergen, das meiner Tante Unannehmlichkeiten bereitet oder verletzt“, erwiderte er äußerlich gelassen. Mit Macht unterdrückte er das Verlangen, die Bänder der Haube aufzureißen, das alberne Ding zur Seite zu werfen und Talitha die Wut aus ihrem Gesicht zu küssen. Das plötzliche Bild ihrer in Leidenschaft geschlossenen Lider, ihres Mundes, der seinem nachgab, ihres Körpers, der sich an den seinen schmiegte, traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Um seine plötzliche Erregung zu verbergen, drehte er sich auf dem Absatz herum.
„Ich läute nach Rainbird. Es tut mir leid, dass ich Sie heute Nachmittag nicht fahren kann. Er wird Ihnen eine Droschke rufen.“
„Danke, Mylord. Vielleicht könnten Sie mir noch die Adresse der Bank geben, die Sie mir empfehlen wollten. Miss Scott wird mich sicher gerne begleiten, ich muss also auf Ihr großzügiges Angebot nicht zurückgreifen.“
Mit großen Schritten begab sich Nick an den Sekretär und kritzelte ein paar Zeilen. Als er sich umdrehte, stand Talitha näher bei ihm, die Hand nach der Notiz ausgestreckt. „Miss Scott? Ah, ja, die Gouvernante.“
„Genau. Meine Freundin, der ich Sie heute Morgen vorgestellt habe. Zweifelsohne werden Ihre
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