Aller Heiligen Fluch
Doch jetzt, mit Kate, ist jede Woche ein neuer Meilenstein. Und während es einerseits tatsächlich ganz erstaunlich scheint, dass Kate jetzt schon ein Jahr alt sein soll, ist es andererseits doch, als hätte es sie schon immer gegeben.
Komm uns doch besuchen, will sie schon sagen. Komm nachher mit zu mir, wenn wir genug über Schädel und Knochen diskutiert haben. Dann können wir am Strand spazieren gehen, Kate zusehen und über das Leben reden. Doch da klatscht Cathbad energisch in die Hände.
«Gehen wir in den Vortragssaal, Freunde. Der erste Vortrag fängt gleich an.»
Der erste Vortrag hat den Titel «Ehre den toten Ahnen» und ist um einiges interessanter, als Ruth erwartet hat. Erschrocken muss sie erfahren, dass noch 2003 in den zuständigen Arbeitsgruppen davon abgeraten wurde, menschliche Überreste an die Ursprungsländer zurückzuerstatten, weil berechtigte Zweifel an «Sorgfalt und Erhaltungswillen» gegeben seien. 2005 wurden in ganz Großbritannien dreihundertfünfundachtzig Fälle von Gebeinen australischer Ureinwohner in verschiedenen Einrichtungen nachgewiesen. «Viele dieser Knochen», so die Referentin Alkira Jones, «wurden ihrem Ursprungsland im Rahmen brutaler Kolonialisierungsakte entrissen.» Ruth muss an den nun selbst verstorbenen Danforth Smith denken …
Der alte Herr war der Meinung, dass die Abos anders gebaut sind als wir, dass sie direkt von den Höhlenmenschen abstammen oder so. Deshalb hat er angefangen, Knochen zu sammeln.
Sie erfährt von einem Gesetz zum Schutz der Gräber und zur Rückführung der Überreste amerikanischer Ureinwohner, das in den USA 1990 verabschiedet wurde, um einen Konflikt über die Aufbewahrung indianischer Gebeine und Grabbeigaben zu lösen. Auch Israel hat kürzlich ein Umbettungsgesetz verabschiedet, von dem teilweise sogar die ältesten menschlichen Überreste, die man nach anatomischen Gesichtspunkten als modern bezeichnete, betroffen sein könnten. In Schottland gibt es ein uraltes «Grabesrecht», ein Anrecht auf Bestattung, und es besteht Aussicht, dass etliche andere Länder dieses Prinzip künftig übernehmen werden. «Die Museen», berichtet Alkira Jones, «wollen die Überreste nicht hergeben, weil sie, wie sie sagen, zur Vergrößerung menschlichen Wissens beitragen. Dabei tragen sie in Wahrheit nur zur Vergrößerung menschlichen Leids bei. Wir müssen mit den lebenden Nachkommen dieser Menschen in Beziehung treten. Und zwar in eine lebendige Beziehung, nicht in eine tote.»
Ruth rutscht unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. Als forensische Archäologin unterhält sie vielfältige Beziehungen zu den Toten. Und hat sie nicht selbst oft gestaunt, wie viel man durch einen einzelnen Knochen oder Zahn lernen kann? Soll sie auf dieses Wissen verzichten, um sicherzugehen, dass die Gebeine ein angemessenes Begräbnis erhalten? Spielt das denn überhaupt noch eine Rolle? Wenn man Alkira Jones glaubt, dann spielt es für die Lebenden eine Rolle, und das ist das Entscheidende. Aber stimmt das auch? Ruth weiß, dass einige der Gruppen, die die Rückgabe der Gebeine australischer Ureinwohner fordern, keineswegs Nachkommen der fraglichen Stämme sind. Nach den Richtlinien des Australian Institute of Aboriginal Studies muss eine Abstammung nachgewiesen werden. Aber was geschieht, wenn das nicht möglich ist? Kann jeder x-Beliebige die Rückgabe von Knochen fordern, die eventuell wertvolles Wissen für die nachfolgenden Generationen in sich bergen?
Ruth muss an das Bild eines viktorianischen Malers denken, das sie als Kind sehr fasziniert hat. Es trug den Titel
Can These Dry Bones Live?
und zeigte eine Frau in einem schwarzen Überwurf und einem eleganten roten Rock, die, auf einen Grabstein gestützt, einen Totenschädel und ein paar Knochen betrachtet. Die Knochen wurden ausgegraben – von wem? Oder von was? War es ein nachlässiger Totengräber? Ein Tier? Oder ein sehr punktuelles Erdbeben? Dem Bild wird oft nachgesagt, es zeige die viktorianischen Zweifel an einem Leben nach dem Tod. Das mag ja sein, doch es enthält durchaus auch Hinweise, die den Betrachter beruhigen könnten. Der Grabstein ist der eines gewissen «John Faithful» und trägt die englische Inschrift: «Ich bin die Auferstehung und das Leben.» Auf einem anderen Grabstein steht «Resurgam». Auf dem Schädel hat sich ein blauer Schmetterling niedergelassen, und weiter hinten im Bild sind Blumen frisch erblüht. Für Ruth birgt das Bild jedoch eine ganz andere Lektion. Was können uns
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