Aller Heiligen Fluch
herangedrängt. Sie ist froh, dass der Hund einen Puffer zwischen ihnen bildet. Als sie Klaudia den Kopf tätschelt, streift sie Max’ Bein. Er lächelt, rückt aber nicht von ihr ab.
«Am Anfang ist die Traumzeit», sagt Bob. «Und in der Traumzeit liegt alles Heilige der Erde begründet. In ihr nehmen alle Dinge ihren Anfang, doch sie ist nicht vergangen. Sie ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn wir unsere Ahnen in der Erde bestatten, dann kehren sie in die Traumzeit zurück und schließen auf diese Weise den Kreis. Jeder Ort und jedes Lebewesen gehört der Traumzeit an. Die Geister der Kinder leben dort, ehe sie geboren werden, und die Toten kehren dorthin zurück, wenn sie ihren Körper verlassen.»
Bob erzählt ihnen von Seelen, die im Sand vergraben sind, jede Stelle mit einem kleinen Zweig markiert. Anjea, die Göttin der Fruchtbarkeit, sammelt die Zweige ein und legt sie zu einem Kreis zusammen. Dann formt sie neue Seelen aus dem Schlamm und setzt sie in die Bäuche unfruchtbarer Frauen ein. Er erzählt ihnen, wie die Bagadhimbri, zwei Götter-Brüder in Dingo-Gestalt, die ersten Geschlechtsorgane aus Pilzen schufen. Er erzählt ihnen von Bahloo, dem Mann im Mond, der sich drei Giftschlangen als Haustiere hält. Er erzählt ihnen von den Mimis, elfenhaften Wesen, die in Felsspalten wohnen. Er erzählt ihnen vom Nargun, das bei Nacht Kinder entführt. Er erzählt ihnen von den Wolken- und den Regengeistern, von der Sonnengöttin und von Yurlunggur, der Mulgaschlange, die vom Geruch des Menstruationsbluts einer Frau aus dem Schlaf geweckt wurde, die Frau auffraß und später gezwungen wurde, sie wieder auszuspeien. In den Initiationsriten der Aborigines, erzählt Bob, symbolisiert das Erbrechen den Übergang vom Knaben zum Mann. Ruth denkt bei sich, dass angesichts der natürlichen Gegebenheiten der Übergang vom Mädchen zur Frau wohl passender wäre.
Doch seine größte Begeisterung spart Bob sich für die Regenbogenschlange auf, die Große Schlange, die sich in der Traumzeit über das Land schlängelt und Flüsse und Wasserläufe erschafft. Ihr Körper hat die Täler geformt; wo sie Rast machte, entstanden große Seen; die Steine sind ihre Exkremente, und aus ihren abgeworfenen Schuppen sind die Wälder entstanden. Die Schlange, erzählt Bob, ist das Totem seines Stammes, und er hat bereits viele Gedichte über sie geschrieben. Einige davon liest er jetzt vor, und seine Worte schlängeln sich durch den Raum wie die Schlange selbst, sie winden sich bis in die dunkelsten Winkel und nehmen in den letzten Strahlen der Nachmittagssonne Gestalt an.
Seltsam, sinniert Ruth verträumt, dass der Schlange in der christlichen Schöpfungsgeschichte die Rolle des ganz und gar Bösen zufällt. Hier ist sie Held und Bösewicht zugleich, Schöpferin und Zerstörerin in einem. Eines von Bobs Gedichten erzählt davon, wie die Schlange einen kleinen Jungen frisst, weil er nicht aufhören will zu weinen, doch dann gehen sowohl der Junge als auch sein Weinen in die Traumzeit ein. Auch Bischof Augustine war offensichtlich besessen von Schlangen. Einerseits war die Schlange ein Dämon, den es zu zerstören galt, andererseits das Instrument seiner Rache. Und natürlich besteht auch noch eine andere, eher Freud’sche Verbindung zur Schlange, vor allem, wenn Augustines Geschlecht tatsächlich in Zweifel steht. War die Schlange das Symbol seiner vorgetäuschten Männlichkeit? Sind nicht manche Schlangen auch Hermaphroditen?
Bob schließt mit einem Gedicht der großen Aborigine-Lyrikerin Oodgeroo Noonuccal. Es heißt «Ballade von den Totems» und handelt von ihrem Vater und dem heiligen Symbol ihres Stammes. Einmal bezeichnet sie es als «Teppichpython», was Ruth etwas eigenartig vorkommt. «Teppichpython», das klingt so viel niedlicher als die Große Regenbogenschlange – fast ein wenig nach Pantoffelheld.
Sie merkt, dass Max ihr die Hand hinstreckt, um ihr aufzuhelfen. Sie rappelt sich ohne Hilfe hoch und schämt sich ein bisschen, weil sie so ungelenkig ist.
«Was kommt jetzt?»
«Ich glaube, wir machen das Räucherritual.» Max deutet auf Bob, der durch die offenen Türen als Erster in den Garten hinausgeht. Mitten auf dem Rasen ist Cathbad eifrig damit beschäftigt, ein Lagerfeuer aufzuschichten.
«Cathbad ist ein richtiger Feuerteufel», sagt Ruth, während sie ihre Jacke überstreift.
«Das Feuer ist ja auch ein wichtiger Bestandteil von Ritualen», sagt Max. «Das war mal ein Vortrag, was? Unglaublich
Weitere Kostenlose Bücher