Aller Heiligen Fluch
diese Knochen über das Leben des Menschen sagen, zu dem sie gehören? Wie können vertrocknete Knochen vom Leben in all seiner prachtvollen Vielfalt zeugen? Sie fragt sich, ob das Bild, so wie auch das Horniman-Museum, wohl ihre Berufswahl beeinflusst hat. Vielleicht hat ihr aber auch einfach nur der rote Rock gefallen – sicherlich eine merkwürdige Wahl für eine Frau, die in Trauer ist. Und jetzt erzählen ihr diese Leute hier, die Knochen hätten unbedingt begraben bleiben sollen. Sie findet das verwirrend.
Der nächste Vortrag, eine Tour de force durch sämtliche Kunstgegenstände australischen Ursprungs, die in britischen Museen aufbewahrt werden, ist deutlich langweiliger. Ruths Gedanken driften ein wenig ab, sie überlegt, was Kate wohl gerade macht. Sandra ist gut darin, den Tag interessant zu gestalten; wahrscheinlich wird sie mit Kate in den Park gehen, vielleicht ein bisschen mit ihr backen. Trotzdem genießt Ruth auch ihre eigenen Samstage mit Kate. Meistens gehen sie an den Strand, Muscheln sammeln. Im Garten haben sie schon eine ganze Reihe davon ausgelegt, wie in dem Kinderreim «Mary, Mary, Quite Contrary». Manchmal fahren sie auch nach Blakeney, um den Fischerbooten zuzusehen, und landen dann oft zum Tee in Cathbads lila Wohnwagen. Kate hat ihren eigenen Traumfänger, aus glänzenden Perlmuttmuscheln und rosa Federn. Bis jetzt hat er allerdings auch nicht dafür gesorgt, dass sie besser einschläft. Vielleicht wird Ruth heute Abend noch einmal versuchen, gleich nach der Gutenachtgeschichte nach unten zu gehen …
Sie schreckt hoch, und die rosa Federn und die Muscheln stürzen in sich zusammen. Der Referent, Derel Assinewai, berichtet gerade von den schlimmsten Abscheulichkeiten der kolonialistischen Trophäenjäger. «Wir hören von Aborigines, die gejagt wurden, richtig gejagt, wie die Tiere. Gerüchten zufolge wurden sie anschließend skalpiert. Es waren also die Briten und keineswegs die Indianer Nordamerikas, die damit angefangen haben, ihre Opfer zu skalpieren – und den Skalp als Andenken zu behalten.»
Ruth denkt an die verräterischen Schnitte an dem einen Schädel im Smith-Museum. Ist es richtig gewesen, Cathbad und Bob davon zu erzählen? Es bereitet ihr ein gewisses Unwohlsein, dass Lord Smith am Tag nach dieser Enthüllung bereits tot war, auch wenn sie natürlich keinen Verdacht gegen Cathbad oder Bob hegt. Sie schaut zu Bob hinüber, und er lächelt ihr zu. Er sitzt in der letzten Reihe und lauscht Derels Vortrag, ganz entspannt, mit übereinandergeschlagenen Beinen und zurückgelegtem Kopf. Nein, der Tod von Danforth Smith muss Zufall gewesen sein. Trotzdem ist Ruth ganz froh, dass sie bei sich zu Hause keine Aborigine-Knochen herumliegen hat.
Stellen Sie sich mal vor, wie viel schlimmer es ist, die Knochen unserer Ahnen mitzunehmen und sie am anderen Ende der Welt zu verwahren.
Warum hat Danforth Smith so eisern daran festgehalten, die Schädel nicht zurückzugeben? Sie werden doch nicht einmal mehr ausgestellt. Und auch wenn er sichtlich stolz auf diese grausige Sammlung war, hat Ruth doch nicht den Eindruck gewonnen, dass ihm das Museum insgesamt allzu viel Freude bereitet. An dem Tag, als sie die Knochen begutachtet hat – war das wirklich erst diese Woche? –, wirkte Lord Smith abgespannt, fast ein wenig verängstigt, und das Museum erschien ihr wie ein trauriger Ort, staubig und vernachlässigt. Ruth kann sich nicht vorstellen, dass es jemals wieder öffnen wird. Wer verirrt sich schon in eine Seitenstraße voller Bürogebäude, um ein paar ausgestopfte Tiere zu besichtigen? Nein, es ist sicher das Beste, das Museum mit Neil Topham und Danforth Smith sterben zu lassen und die Schädel in aller Stille an Australien zurückzugeben. Ruth zumindest hat getan, was sie konnte. Ihr Gutachten bestätigt, dass die Knochen unter desolaten Bedingungen aufbewahrt werden, und sie hat es an das Ministerium für Kultur, Medien und Sport geschickt. Jetzt hofft sie, dass die Behörden daraufhin Druck auf die Familie Smith ausüben werden, die Knochen zurückzugeben. Tatsache ist allerdings, dass die Regierung bei Gebeinen in Privatbesitz wenig bis gar keinen Einfluss hat. Fast ist es, als würden sie tatsächlich Lord Smith gehören, mit Leib und Seele. Aber wem gehören sie jetzt? Ruth weiß, dass Smith einen Sohn hat. Wird er der nächste Lord Smith?
Das Mittagessen, das von einem veganen Restaurant in der Nähe gestellt wird, ist absolut köstlich. Das Wetter ist so schön, dass
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