Aller Heiligen Fluch
Polizeikostümen, was Nelson recht unangenehm berührt), dazu Austauschstudenten in kunterbunter Sportkleidung und Männer, die viel zu gut angezogen sind, um nicht schwul zu sein. Nelson und Michelle gehen die Promenade entlang, vorbei an Arkaden, die zu Nachtclubs und Restaurants umfunktioniert wurden. Vom alten West Pier ist nur noch ein rostiges Eisengerüst übrig, wie ein viktorianischer Vogelkäfig, der gut hundert Meter vom Ufer entfernt mitten im Meer steht. Passenderweise wimmelt dieser Vogelkäfig nur so von Vögeln: Hunderte und Aberhunderte Stare schwirren und flattern in den letzten Strahlen der Abendsonne umher, schwarze Schatten am violetten Himmel. Nelson und Michelle bleiben stehen und sehen ihnen ein paar Minuten lang zu.
«Etwas unheimlich, findest du nicht?», sagt Michelle. «Erinnert mich irgendwie an diesen Film,
Die Vögel
.»
Nelson brummt nur. Er hat noch nie viel mit Vögeln anfangen können.
«Ist alles in Ordnung, Harry?»
«Alles bestens. Komm, wir gehen zurück zum Wagen.»
Doch als sie durch den Tunnel zur Tiefgarage gehen, merkt Nelson, dass doch nicht alles bestens ist. Jetzt, wo er darüber nachdenkt, hat er sich schon den ganzen Tag komisch gefühlt. Er hatte keinen Appetit, und das Laufen hat ihn übermäßig angestrengt, als hätte er Bleischuhe an den Füßen. Ein- oder zweimal hat die Promenade mit den Hotels aus der Regencyzeit und den malzbonbonfarbenen Brüstungen auch höchst bedrohlich geschwankt. Erst jetzt aber, als er vor dem Wagen steht und der Boden erneut wackelt, so heftig, dass er sich an Michelle festhalten muss, um nicht umzufallen, wird ihm die Wahrheit in ihrer ganzen Tragweite bewusst. Er fühlt sich krank.
Kate schläft, als Ruth sie abholen kommt. «Tut mir leid», sagt Sandra, «aber wir hatten einen aufregenden Tag. Sie war nicht zu bremsen.» Jetzt allerdings ist Kate gebremst: Ihr Kopf ist zurückgesunken, der Mund steht ein wenig offen und in der Hand hält sie noch einen leicht angeschmuddelten Klumpen Teig. «Wir haben Mince-Pies gebacken», erklärt Sandra. «Es ist zwar noch etwas hin bis Weihnachten, aber das macht ja nichts. Möchten Sie ein paar mitnehmen?»
Ruth lässt sich einen Gefrierbeutel mit Mince-Pies zurechtmachen und bedankt sich überschwänglich bei Sandra. Es stört sie nicht, dass Kate schläft. Sie braucht ein bisschen Zeit, um über den bevorstehenden Abend nachzudenken. Max hat gesagt, er werde später bei ihr vorbeikommen. «Klaudia braucht erst noch ein bisschen Bewegung», meinte er. «Aber ich könnte irgendwo eine Flasche Wein und was zu essen besorgen. Was hältst du davon?» Ruth hat erwidert, davon halte sie sehr viel, doch insgeheim geht ihr das alles ein bisschen zu schnell. Sie hatte eine Tasse Tee und ein freundschaftliches Gespräch im Sinn, vielleicht noch gebührendes Bewundern von Kate und einen kleinen Spaziergang am Rand des Salzmoors – und jetzt wird auf einmal ein Abendessen daraus. Zudem ist es auch noch dunkel, und Kate schläft. Wach ist sie immer für eine Ablenkung gut und wäre fast eine Art Anstandsdame. Jetzt wird sie nur pittoresk im Hintergrund dösen, und sie werden, was die Ablenkung betrifft, mit Klaudia und Flint vorlieb nehmen müssen. Flint! Was er wohl dazu sagen wird, einen Hund im Haus zu haben? Ruth kann nur hoffen, dass er nicht wieder verschwindet. Vielleicht flüchtet er sich ja zu Bob. Sie ertappt sich bei dem Wunsch, dass Bob bald nach Hause kommt, damit sie nicht allein mit Max im Salzmoor sitzt.
Wovor hat sie eigentlich solche Angst? Hat sie nicht genau das gewollt, hat sie sich nicht erlaubt, genau davon zu träumen, während der anstrengenden Sommermonate, als Nelson unerreichbar und sie ganz allein mit ihren Sorgen war? Ja, so ist es, und Ruth ist sich klar darüber, dass sich in ihre Angst auch Vorfreude mischt. Ihre Haut prickelt, sie spürt den Stoff der Kleider überdeutlich an Armen und Beinen. Ihr ist ein wenig übel, gleichzeitig hat sie aber wahnsinnigen Hunger. Hoffentlich kann sie zumindest noch duschen, bevor Max kommt. Aber wirkt das dann nicht, als würde sie es drauf anlegen, wenn sie ihm nach Duschgel und Zahnpasta duftend öffnet? Immer noch besser als nach Windeleimer und dem gestrigen Abendessen, das noch im Topf klebt. Aufgeregt und kurzatmig kurvt sie die dunklen Straßen entlang. Langsam hofft sie, dass Max vielleicht gar nicht kommt.
Doch als sie vor ihrem Häuschen hält, steht sein Range Rover bereits dort. Er öffnet die Tür, und Klaudia
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