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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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weil die Tochter nicht mehr dazu kam, mit dem Kind im Park zu spazieren. Die Fußbank behält sie, denn ohne diese reicht sie nicht mehr ans obere Fach ihres Bücherschrankes heran, und dort stehen noch immer, und bleiben auch da, Band 1 bis 20 der Goethe-Ausgabe, darunter der 9., den vor Jahren der Stein von Andrej traf. Inmitten der guten bleibt so auch die schlimme Erinnerung aufbewahrt, körperlos die eine wie die andre. Und den silbernen Kerzenleuchter, den ihre Mutter mitgebracht hat, behält sie, er steht jetzt auf der Fensterbank im Salon, aber sie entzündet an keinem Sabbat, und auch sonst nie, die Kerzen.
    27
    I m August setzt er seinen Fuß auf der anderen Seite der Welt zum ersten Mal wieder auf Festland, zwischen den Häusern staut sich die Hitze, seine Frau hätte gesagt, die Luft steht, er hätte auf die tintenfarbenen Schatten unter ihren Achselhöhlen am sonst hellblauen Kleid geschaut und, wenn es niemand sah, seine Hand schnell dazwischen gesteckt, und sie hätte gesagt, lass das, und gelacht. Hier nun sieht er zum ersten Mal Händler mit nichts als einem dreckigen Unterhemd am schwitzenden Leib, Obst, Fleisch oder Fisch rufen sie aus und halten das eine oder andere Stück in die Höhe, die hiesige Kundschaft scheint das stille Wuchern der Männerhaare auf Brust, Nacken und Armen, dessen sie dabei ungewollt ansichtig wird, nicht zu stören. Er selbst tritt, um eine saubere Toilette zu finden, in ein Hotel ein, bei der Überfahrt von Ellis Island nach Battery Park ist seine Frisur in Unordnung geraten, er sieht sich im Spiegel, sieht denselben Mann, den er auch in Europa immer im Spiegel gesehen hat, dem legt er die Strähnen wieder in Form, tupft ihm etwas Pomade auf den Schnurrbart, legt ihm den Mantel aus gutem kaiserlich-königlichem Tuch über den Arm, gibt ihm den Koffer in die andere Hand und lässt ihn so, beinahe schon ganz Amerikaner, wieder ins Freie treten. Auf einem Zettel, den sein Reisegefährte ihm beim Abschied gegeben hat, stehen Weg und Adresse. Er biegt, wie auf dem Zettel beschrieben, rechts ein und findet sofort den ihm empfohlenen Eintritt unter die Erde, mit der subway soll er nach Harlem, dort hat der Herr, der mit ihm gereist ist, seine Manufaktur, je tiefer er steigt, desto heißer und älter ist die unterirdische Luft, in der Monarchie sang man nach einer Melodie von Mozart: Üb immer Treu und Redlichkeit/ Bis an dein kühles Grab,/ Und weiche keinen Finger breit/ Von Gottes Wegen ab – hier dagegen schwitzen wohl selbst noch die Toten in ihrer Tiefe. Er versucht, sich an die übrigen Strophen des Liedes zu erinnern, da fährt schon die Bahn, von Pferden gezogen, in die Station ein, Scheuklappen tragen die armen Viecher, dabei ist es unter der Erde doch ohnehin dunkel, der Kutscher Simon würde sich wundern. Kaum weniger taub und stumm als die Pferde ist er, der Reisende selbst, weder spricht noch versteht er ein einziges englisches Wort, er weiß nicht, wessen Bild auf der Geldmünze ist, mit der er den Fahrschein bezahlt, und hält das Kaugummikauen mitreisender Passagiere für eine Krankheit. Gerade jetzt, da er sich inzwischen darüber im Klaren ist, dass die Welt der Zahlen mehr verbirgt als sie zeigt, liest er hier 96., 110., 116. Straße . So wenig ausgekannt hat er sich nur in seiner Kindheit, als sein Vater ihn Sonntag für Sonntag schlug, und er den Grund dafür nie erfuhr, auch hinterher nicht, wenn er sich für die Schläge bedanken und den Vater mit seinem Titel ansprechen musste: Herr Zollamtsoberoffizial. Die Mutter hatte ihren Sohn vor dem eigenen Mann nicht geschützt, hatte gesehen, wie der Vater ihn schlug, ihrerseits aber nur in der Ecke gestanden, sich nicht vom Fleck gerührt und leise geweint. Wurde ihr Weinen zu laut, bekam sie selbst Schläge. Als Kind wusste er nicht, wen er mehr hassen sollte, seinen Vater, der ihn Sonntag für Sonntag totschlagen wollte, oder die Mutter, die daneben stand und nicht wusste, was tun. Auch seine Frau hatte in der bewussten Nacht nicht gewusst, was tun.
    Noch vor seinem Abschluss an der Technischen Hochschule in Wien war zu Hause die Mutter gestorben, am Schlag, hatte es in dem Telegramm, das er bekam, geheißen. Er hielt das bis heute für einen schlechten Scherz, denn er kannte die Schläge des Vaters. Blaue Flecken, wie sie der Vater der Mutter wahrscheinlich zugefügt hatte, färbten sich, das hatte er einmal von einem Freund, der Medizin studierte, gehört, noch im Sarg und unter der Erde erst grün, dann

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