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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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ihr Kind am liebsten erschlagen, und das Mädchen sieht aus, als wünschte es sich, es sei tot. Dann setzt der Lärm wieder ein, das Weinen, das Reden und das Schreien, die Kinder rennen wieder, die Erwachsenen warten, ein Junge legt ein Eis, das ihm ein Verwandter, der ihn besuchen durfte, mitgebracht hat, neben sich auf die Bank, da schmilzt es langsam, denn der Junge weiß nicht, was ein Eis ist.
    Schau mal, auf deinen Rücken hat der Kontrolleur mit Kreide einen Buchstaben geschrieben – auf meinen auch?
    Der Junge dreht seinem Freund den Rücken zu, damit dieser sehen kann, ob auch er ein solches Zeichen trägt, das womöglich darüber entscheidet, ob er bleiben darf oder nach Europa zurück muss.
    Nein, auf deinem Rücken steht nichts.
    Was ist das für ein Buchstabe?
    Weiß nicht.
    Muss ich jetzt zurück, oder du?
    Keine Ahnung.
    Zwei kleine Mädchen hocken auf dem Fußboden.
    Ich hab Durst.
    Wenn du nach Battery Park kommst, sind dort ganz viele Brunnen, hat Großmutter gesagt.
    Dann trink ich.
    Nein, das darfst du auf gar keinen Fall.
    Warum denn nicht?
    Sie hat gesagt, dann vergisst du alles, was du über deine Herkunft weißt.
    Dann vergesse ich den Garten?
    Ja.
    Und den Kamin?
    Ja.
    Und Großvater?
    Ja.
    Und Großmutter?
    Ja.
    Und die Katze?
    Ja.
    Alles?
    Ja.
    Woher will Großmutter das wissen?
    Das hat sie von Leuten gehört.
    22
    A m Abend eines der Tage steht kein Essen auf dem Tisch, und als Mutter und Tochter die Tür zum Zimmer der Großmutter aufmachen wollen, ist das nicht möglich, weil deren Körper davorliegt. Vos iz mit dir? Mameleh, vos iz mit dir? Der Kutscher Simon wird zu Hilfe geholt, mit einer Axt schlägt er die Tür ein, die Mutter steht daneben und presst die Hand vor den Mund, die Tochter ruft den Namen der Großmutter, aber es antwortet niemand.
    Was hast du heute noch zu tun?
    Ich muss einen Gast bewirten.
    Hast du oft Gäste?
    Ist denn die einsam gewordene Seele nicht Gast im Körper? Heute ist sie hier, und morgen ist sie schon wieder fort.
    Als das Loch in der Tür endlich groß genug ist, strecken die beiden Frauen die Hände nach der Großmutter aus, aber die ist schon kalt, so kalt, wie sich nur etwas Gestorbenes anfühlt.
    23
    I n der großen Halle von Ellis Island wird an einem der vielen kleinen, viereckigen Schalterfenster aus einem Loschell ein Louis, aus einem Davnar ein David, aus einem Arden ein Alvin, aus einer Chaja eine Clara. Und aus ihm, dem Johann, ein Joe. Hatte er wirklich so weit gehen wollen? Und warum überhaupt? Andere erfahren an einem solchen kleinen viereckigen Schalterfenster, dass ihre Familie zwar hier bleiben darf, aber sie selber nicht, oder dass auch alle anderen Familienmitglieder ihretwegen die Rückfahrt antreten und dahin heimkehren müssen, wo sie nicht mehr daheim sein wollten, wo sie verhungern werden oder man sie erschlägt. Dann schreien sie oder klammern sich aneinander, manche weinen auch einfach still in sich hinein oder verstummen.
    24
    E rst nach dem Begräbnis der Großmutter erzählt ihr die Mutter, dass sie, die Tochter, die ersten Schritte an der Hand der Großmutter gegangen sei.
    Und wo warst du?
    Ich habe den Umzug organisiert und den Laden trotzdem offengehalten.
    Hat dir niemand geholfen?
    Nein.
    Warum nicht?
    Der Umzug ging in die falsche Richtung.
    Also wusste so eine Mutter mehr über ein Kind, als ein Kind jemals über sich selbst wissen konnte. Wäre ihr eigenes am Leben geblieben, hätte sicher sie selbst, als die Mutter, ihm beigebracht, wie man einen Fuß vor den andern setzt – an irgendeinem Vormittag, während ihr Mann im Amt gewesen wäre, hätte das Kind an ihrer Hand zum ersten Mal die Strecke vom Schrank bis zur Truhe zurückgelegt, ohne zu fallen, vielleicht auch bei schönem Wetter unten den Weg von der Haustür zur nächsten Ecke. Als Mutter hätte sie das gewusst und es niemals vergessen, und ihrem Kind vielleicht eines Tages davon erzählt, vielleicht auch nicht, mit Grund oder ohne. Jetzt aber gehörten alle Geheimnisse und Erinnerungen ihr ganz allein, und was sie verschweigt, danach wird, auch viele Jahre später, keiner sie fragen. Das Haus der Großmutter, in dem sie, wie sie erst jetzt erfahren hat, laufen lernte, ist, sie hat es neulich gesehen, schon in sich zusammengefallen. Das Dach ist in die Stube gestürzt und hat aus dem, was früher ein Raum war, einen Haufen Unrat gemacht. Hühner staksten auf diesem Haufen herum und stocherten mit ihren Schnäbeln im fauligen Stroh, ihr Hühnerleben

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