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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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lang auf der Suche nach einem Wurm oder Käfer. Bliebe sie für den Rest ihres Lebens in diesem Städtchen, würde sie früher oder später, aus einem Haus tretend, das aussieht wie andere, direkt davor auf der Straße ihrer Mutter begegnen, vielleicht auch nur einer Nachbarin oder Freundin, das würde schon reichen. Nein, sie muss nicht darauf warten, dass sie verloren gegeben wird, um sich selbst nicht mehr zu finden, schon jetzt ist sie bis auf die Knochen frei, schon jetzt ist vollkommen gleichgültig, was sie tut.
    Mit denselben Händen, mit denen sie sich, als sie laufen lernte, an ihrer Großmutter festhielt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, packt sie nun in einen Koffer das Nötigste ein, trägt ihn zum Bahnhof und bezahlt das Billett. In einem Abteil zweiter Klasse fährt sie über die Schienen, für deren Instandhaltung der, der in ihrem früheren Leben ihr Mann hieß, zuständig war, den Abschnitt hinter sich zu bringen, dauert nur 1 Stunde und 20 Minuten, sie fährt noch zwei Stunden weiter und steigt erst in Lemberg, der Hauptstadt des Königreiches Galizien und Lodomerien, wieder aus, 90 Kilometer südöstlich der kleinen Grenzstadt, in der sie erst Mädchen, dann eine junge Frau und später für kurze Zeit sogar Mutter und Ehefrau war. Sie schreibt sich von einem Aushang im Bahnhof eine Adresse ab, trägt ihren Koffer dorthin, zahlt eine Hälfte der Monatsmiete im Voraus, drückt eine Türklinke nieder und bezieht so ihr neues Quartier. Hier weiß niemand, wer sie an der Hand hielt, als sie, mit elf Monaten schon, lernte, aufrecht zu gehen, es weiß auch keiner, dass die Polen daran schuld sind, dass sie sich an keinen Vater erinnert, und ebensowenig weiß irgendwer, dass sie »Der Gott und die Bajadere« von Goethe noch immer auswendig hersagen kann. Hier wird sie ihre rechte Hand, natürlich auch ihre linke, sowie ihren Mund und die anderen Öffnungen ihres Körpers zu nichts weiter verwenden, als dazu, ebendiesen Körper, die Hände, den Mund, und den Rest, an dem die Öffnungen angebracht sind, am Leben zu erhalten. Allerdings unter neuem Namen, der, wie sie findet, dem neuen Leben einigermaßen entspricht, wenn einer sie danach fragt, sagt sie, sie heiße Heiße von Lemberg, und lacht.
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    D ie österreichisch-ungarische Monarchie versammelte doch beinahe ebensoviele Völkerschaften unter der Krone, wie er sie hier in der Halle sieht. Von Bosnien bis in die entlegenste polnischsprachige Provinz waren die Türen einer Trafik immer mit gelben und schwarzen Streifen versehen, hatte das Kaiserbild einen Ehrenplatz an der Wand, und blieb bei aller Vermischung der verschiedenen Sprachen und Dialekte das Deutsche die Sprache der Ämter. Aber ausgewählt hatte der Kaiser nicht, sondern hatte einfach die Völker im Ganzen dem Reich einverleibt: Melancholie, Wahnsinn und Widergesetzlichkeit waren daheim geblieben, wenn auch daheim plötzlich Österreich oder Ungarn hieß, und es hatte der Monarchie nicht geschadet. Krieg hin oder her, hatten sich innerhalb von Europa doch von jeher die Menschen, über das Festland streifend, vermischt und sich, wenn das eine Land zu wenig hergab oder das Leben aus einem anderem Grund unerträglich geworden war, eine neue Heimstatt gesucht. Aber vielleicht war so eine Küste von Natur aus eine entschiedenere Art von Grenze. Hier schickte man die Leute, die man nicht wollte, einfach aufs Wasser zurück, mochten sie doch zu Hause zugrunde gehen, oder einfach draußen auf See, wie überzählige junge Katzen, ersaufen.
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    Z um ersten Mal wünscht sie sich, ihr Geist wäre beschränkt, so beschränkt, dass sie es fertigbrächte, ihre Tochter ein undankbares Geschöpf zu nennen. Sie hat in der Wohnung jetzt so viele Zimmer frei, dass es sich lohnt zu vermieten. Das Geschäft gibt sie auf, von den Bauern verabschiedet sie sich und verkauft Pferd und Wagen an Simon, den Kutscher. Aus den Zimmern, die für die Mieter bestimmt sind, nimmt sie alle persönlichen Gegenstände heraus, auch den Keller räumt sie nach und nach leer, denn in zwei, drei Jahren wird ihre Kraft für solche Arbeiten vielleicht nicht mehr reichen. Vieles, was sie bis jetzt, obgleich eine Verwendung nicht absehbar war, hatte aufheben wollen, verschenkt sie nun endlich, die Wiege, in der ihr Enkelkind acht Monate lang geschlafen hatte, das elfenbeinerne Spielzeug mit den Glöckchen aus Silber, und auch das wollene Tuch, um die Schultern zu legen, ihr Geschenk an die Tochter, das unbenutzt geblieben war,

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