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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Bruchstücke bekam man zurück, Fragmente, nie mehr den ganzen Zeitraum.
    »Daran würdest du auch ersticken.« Das war Erna. Und diese andere Stimme, wem immer sie gehören mochte, hatte ihn aus Ithaka zurückgebracht in die Otto-Suhr-Allee. Ein alberner Pfosten der Buslinie 145 ragte aus dem Schnee. In dem Glashäuschen der Haltestelle saß eine alte Frau und winkte ihm. Er winkte zurück, sah nun aber, daß die Geste kein Zuwinken war, sondern ein Herbeiwinken, und dann auch noch eher ein Befehl als eine Bitte. Sie war uralt, vielleicht schon neunzig. Sollte zu Hause sein bei diesem Wetter. Neunzig, man stelle sich vor, sie war wirklich so alt. Mit einer Hand hielt sie sich an einer der Glasplatten fest, mit der anderen stützte sie sich auf eine Art Bergstock.
    »Glauben Sie, daß noch ein Bus kommt?«
    »Nein, und Sie sollten hier nicht bleiben.«
    »Ich bin schon fast eine Stunde hier.«
    Sie sagte das in einem Ton, als habe sie schon Schlimmeres erlebt. Vielleicht im Sportpalast mitgejubelt, oder gerade nicht. Man konnte nie wissen. Mann gefallen an der Ostfront, Haus zertrümmert von einer Bombe aus einer Lancaster. Nichts wußte man von anderen Menschen, außer, daß sie damals ungefähr vierzig gewesen sein mußte.
    »Glauben Sie, daß die U-Bahn noch fährt?«
    Sie hatte eine dünne, hohe Kommandostimme. Krankenschwester an der Front? Oder doch Kabarett in den zwanziger Jahren?
    »Ich weiß es nicht. Wir können es versuchen.«
    »Wo müssen Sie hin«, hätte er jetzt fragen müssen, aber er tat es nicht.
    »Ich kann Sie zum Richard-Wagner-Platz bringen.«
    »Gut.«
    Dies ist mein Menschenrettertag, dachte er, während er sie praktisch aus dem Häuschen hob. Es war nicht weit. Sie gingen so dicht wie möglich am Rathaus Charlottenburg entlang. Die großen schwarzen Steine sahen aus wie eine Felswand. Die Hand, mit der sie seinen Arm hielt, hatte einen festen Griff. Mit dem rechten Fuß fegte er bei jedem Schritt den Schnee vor ihr weg, so daß ein kleiner Pfad entstand.
    »Sie sind sehr freundlich.«
    Darauf ließ sich nichts erwidern. Wäre er ein Mitglied der neuen rumänischen Mafia gewesen, was hätte er dann getan? Aber die ließen sich bei diesem Wetter nicht auf den Straßen blicken.
    »Der hätte ihr die Handtasche weggenommen.« Victors Stimme. Dieser Schnee verbarg alle möglichen Spukgestalten.
    »Wie alt sind Sie?« Jetzt hatte er doch gefragt.
    »Neunundachtzig.« Sie blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und sagte dann: »Aber alt zu werden ist kein Verdienst.«
    Und dann: »Sie sind kein Deutscher.«
    »Nein, ich komme aus den Niederlanden.«
    Die Hand zupfte an seinem Mantel. »Wir haben Ihnen großes Unrecht angetan.«
    Mir persönlich nicht, wollte er sagen, hielt sich aber zurück. Das Thema war zu kompliziert. Er konnte es nicht ausstehen, wenn die Deutschen von Schuld anfingen, und sei es nur deswegen, weil sich darauf nichts entgegnen ließ. Schließlich war er nicht das niederländische Volk, und sie jedenfalls hatte ihm nichts getan. »Von allen besetzten Ländern hatten wir das größte Kontingent der Waffen-SS.« Aber wenn man so etwas sagte, war’s auch wieder nicht richtig.
    »Ich bin zu jung«, sagte er schließlich. »Ich bin dreiundfünfzig geboren.«
    Sie blieb stehen bei einem behelmten Zwerg und einem riesenhaften König, der sein Schwert senkrecht vor sich auf die Erde stützte. Ein Krieger.
    »Mein Mann war ein Freund von Ossietzky«, sagte sie. »Er ist in Dachau geblieben.«
    Geblieben, das sagten Deutsche, wenn jemand an der Front gefallen war. Gefallen, geblieben. Hatte sie das wirklich gesagt?
    »Er war genauso alt wie Sie.«
    »Kommunist?«
    Sie beschrieb eine Geste in der Luft, als werfe sie etwas ganz weit weg. Schon während er das dachte, wußte er, daß es eigentlich nicht stimmte. Diese Geste, die sich nie mehr so wiederholen ließ, war eher klein gewesen, doch etwas war dadurch weggeflogen, etwas, das vielleicht mit alldem zusammenhing, was nach dem Krieg passiert war. Es würde nie eine gesprochene Antwort geben, und er würde nicht weiterfragen. »Mein Vater war Kommunist.« Das würde er auch nicht sagen. Sie waren fast am Ziel. Er schob sich mit ihr am Schaufenster eines Bräunungsstudios entlang. Eine aus einer Holzfaserplatte ausgesägte Frau in gelbem Bikini gab sich hingebungsvoll der Sonnengewalt hin. Sie war hübsch, aber lächerlich braun.
    Die alte Frau blieb oben an der Treppe stehen. Von unten klang das Gewitter der U-Bahn herauf. Die

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