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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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fuhr also noch. Jemand hatte Asche auf die Stufen gestreut. Bürgerliche Tugenden. Er brachte sie nach unten. Nein, sie brauche keinen Fahrschein zu lösen, sie habe einen Seniorenausweis. Er wollte nicht fragen, tat es dann aber doch. »Wissen Sie, wie Sie fahren müssen? Ich meine, mit dem Bus wären Sie doch irgendwo anders hingefahren?«
    »Vielleicht fahre ich ja nirgendwohin, und mit einem Umweg kommt man da auch hin.«
    Dagegen war nichts zu sagen.
    »Und dann?«
    »Am anderen Ende finde ich wieder so jemanden wie Sie.«
    Sie ging weg, drehte sich um und sagte: »Alles Unsinn.« Dabei lachte sie, und einen kurzen Moment lang, so flüchtig, daß man ihn mit keiner Kamera hätte einfangen können, hatte sie das Gesicht, das sie einst, in irgendeinem Augenblick ihres Lebens, schon einmal gehabt haben mußte. Doch was für ein Augenblick das gewesen sein sollte, davon hatte er keine Ahnung. Die meisten Lebenden waren genauso unerreichbar wie die Toten. Er summte »Alles Unsinn« und stieg wieder in den Schnee hinauf.
    Innerhalb einer Minute hatte er sich in eine weiße Gestalt zurückverwandelt. Dachau, Napoleon in Moskau, nach Frankreich zogen zwei Grenadier’, Stalingrad, von Paulus, dies ungefähr waren seine Gedanken, als er sich dem vanillefarbenen Schloß Charlottenburg näherte. Die Garderobenfrau nahm seinen Mantel entgegen, als klebe Scheiße daran. Durch die Fenster an der Rückseite konnte er die reglementierten Gärten sehen. Der runde Springbrunnen, in dem im Sommer Kinder ihre Bötchen schwimmen ließen, war jetzt nicht in Betrieb, eine hilflose halbe Erektion aus grauem Eis hing schief aus der metallenen Öffnung. Eine Schlachtordnung von Schneemännern, das waren die Büsche zu beiden Seiten des Weges, die in jetzt geschlossenen Holzverschlägen überwintern mußten. Weiter entfernt von dieser in preußische Ordnung gezwungenen Natur standen hohe Bäume als Wächter, zwischen denen ein schwarzgraues Rabenvolk hin und her flog. Hier hatte er einmal ein Interview mit Victor aufgenommen, und so hatten sie sich kennengelernt. Die Interviewerin war mit Victor nicht zurechtgekommen. Sie hatte ihm Fragen gestellt zum deutschen Volkscharakter und worin der Unterschied bestehe zu Niederländern, und Victor hatte darauf geantwortet, der Unterschied sei der, daß Deutsche einen Kreislauf hätten und Niederländer nicht, daß Niederländer hingegen große Probleme mit dem Rücken hätten, aber auch sehr viel schlechte Tomaten produzierten. Das Mädchen hatte völlig hilflos zu Arthur geblickt und gefragt, ob er diese Szene noch einmal aufnehmen könne. Er hatte den Finger auf seine Lippen gelegt und langsam den Kopf geschüttelt.
    »Warum nicht?«
    »Weil es keinen Sinn hat.«
    Aus dem Augenwinkel hatte er gesehen, wie Victor sich von ihnen entfernt hatte und ein Stück weiter stehengeblieben war, wo er krampfhaft nach oben schaute.
    »Aber warum denn nicht?«
    »Ich glaube nicht, daß er Lust hat auf allgemeine Fragen. Niederländer und Deutsche, darüber spricht doch schon jeder, das hängt einem doch schon zum Hals raus.«
    »Schau mal«, sagte Victor in diesem Augenblick vor sechs Jahren, »siehst du die Figuren da oben am Dachrand?«
    Hoch über ihnen standen, beschwingt und tanzend, Frauengestalten mit nackten Brüsten und sich bauschenden Gewändern, die allem Anschein nach aus Gips waren. In den Armen hielten sie Attribute, die die freien Künste darstellen sollten, Zirkel, eine Leier, eine Maske, ein Buch. Die Entfernung war zu groß zum Filmen gewesen, und statt dessen hatte er Victor gefilmt, der sich die Hände vors Gesicht hielt.
    »Sie haben keine Gesichter, siehst du das nicht?«
    »Hat man ihnen die abgeschlagen? Waren das die Russen?« fragte die Interviewerin.
    »Die Russen waren hier nicht, Schätzchen, die Figuren waren von Anfang an so. Kegel ohne Augen. Wie bei de Chirico. Wer etwas darstellt, braucht kein Gesicht, da sieht man’s mal wieder.«
    Die Stelle, an der Victor das gesagt hatte, war nur wenige Meter von dem Fleck entfernt, an dem Arthur jetzt stand. Immer mehr Vergangenheit. So etwas bedeutete natürlich nichts, und melancholisch war es eigentlich auch nicht. Wenn alles gutging, würde er Victor am Abend sehen, darum ging es also nicht. Doch worum dann? Um einen unbedeutenden Moment, eine Szene aus einem seiner vielen Interviews, wenn er das alles behalten müßte, würde er verrückt. Victor hatte dieses Interview bewußt vermasselt, soviel war sicher. Eigentlich ging es eher

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