Allerseelen
ihm verschwinden müssen. Daß dieser Film mit Zeit, mit Anonymität, mit Verschwinden und mit, auch wenn er das Wort haßte, Abschied zu tun haben würde, war nichts, wonach er gesucht hatte, es war einfach so, schrieb sich selbst vor. Aber Deutschland schrieb sich auch vor, und davon ließ sich doch schwerlich behaupten, es sei anonym. Die Kunst würde darin bestehen, diese beiden Dinge miteinander zu vereinen, und dafür mußte er Geduld haben, mußte er sammeln. Berlin würde der Ort sein, an dem ein Teil seines Films spielen würde, und trotzdem durfte es kein Dokumentarfilm werden. Er durfte sich keine Sorgen machen, es würde nicht das erste Mal sein, daß sich aus etwas, das als Chaos erschien, Klarheit entwickelte. Und außerdem, wenn es mißlang, brauchte er sich vor niemandem zu verantworten.
Aber warum, um Himmels willen, Deutschland? Wegen einer spezifischen Art von Unglück, worin er etwas von sich selbst wiedererkannte? Dafür gab es doch keine Beweise, eher das Gegenteil? Eine Wirtschaftsmacht, die, wie auch immer, ganz Europa mitzuziehen schien, eine Währung, die so stark war, daß sich die übrige Welt die Zähne daran ausbeißen konnte, eine geographische Lage, die bewirkte, daß, wenn dieser gewaltige Körper sich nur im Schlaf umdrehte, so etwas wie ein leichtes Erdbeben durch die Nachbarländer ging, weil jedes dieser Länder irgendwann in seiner Geschichte Wunden und Verletzungen erlitten hatte, die sich als nicht mehr zu löschende Erinnerung in die nationale Psyche gegraben hatten, als Niederlage, Besetzung, Demütigung und die dazugehörigen Gefühle von Argwohn, Mißtrauen, Bitterkeit, die sich ihrerseits wieder mit Trauer, Buße, Schuldgefühl in dem großen Land mischten, Melancholie um das, was sie dort selbst häufig die deutsche Krankheit nannten, ein Unglück, das aus Zweifel bestand, weil es nicht sicher war oder sein konnte, daß die Nicht-Schuldigen die Schuld ihrer Vorgänger tragen müßten, während sie sich gleichzeitig fragen mußten, ob es, wie manche behaupteten, in der Seele ihres Volkes einen verhängnisvollen Charakterzug gab, der jederzeit wieder zum Vorschein kommen könnte.
Sichtbar waren diese Dinge meist nicht, doch dem, der ein seismographisches Registriervermögen besaß, konnte nicht entgehen, daß unter all diesem ostentativen Wohlstand, all dieser glänzenden Gediegenheit eine Unsicherheit nagte, die zwar von den meisten geleugnet oder unterdrückt wurde, in den unerwartetsten Augenblicken aber doch in Erscheinung treten konnte. Er war nun schon lange genug hier, um zu wissen, daß im Gegensatz zu im Ausland oft gehörten Behauptungen die ewige Selbsterforschung, in welcher Form auch immer, nie aufhörte, dafür brauchte man nur während einer beliebig ausgewählten Woche das Wort Juden in allen Medien zu zählen, eine mal unterschwellige, mal offen zutage tretende Obsession, die nach wie vor in dem mitschwang, was sich schon lange zu einer gut funktionierenden liberalen, modernen Demokratie entwickelt hatte. Der beste Beweis dafür war, daß man das als Ausländer nicht einmal sagen durfte, daß man gerade von Leuten, die aufgrund ihres Alters an keinerlei Schandtat beteiligt gewesen sein konnten, gewarnt wurde, ihr Land auf gar keinen Fall je zu unterschätzen. Dann führten sie Brandstiftungen an, Greuelgeschichten aus dem Osten, wo man einen Angolaner aus dem Zug geworfen hatte, oder jemanden, der von zwei Skinheads halbtot geschlagen worden war, weil er nicht mit dem Hitlergruß hatte grüßen wollen, und wenn man dann sagte, daß solche Dinge grauenhaft und abscheulich waren, in Frankreich, England oder Schweden aber ebenfalls vorkamen, dann wurde man beschuldigt, blind zu sein für das immer stärker dräuende Unwetter.
Er erinnerte sich an einen Spaziergang, den er mit Victor durch die Gärten von Sanssouci, noch vor der Restaurierung, gemacht hatte. Es war ein dunkler, regnerischer Tag gewesen, und falls er je Bilder für das gesucht hatte, was ihn beschäftigte, dann hatte er sie dort gefunden: die violette Trauer der üppigen Rhododendren vor den Ruinen des Belvedere, die verunstalteten Frauen und Engel, die sich nur durch rostige Eisenstangen aufrecht hielten, die Risse im Backstein, die eher Narben glichen als irgend etwas sonst – alles schien die Sorglosigkeit des Namens leugnen zu wollen, den der große König dem Schloß gegeben hatte. »Man kann nicht sagen, er hätte es nicht versucht, der große Friedrich«, sagte Victor. »Flöte
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