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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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spielen, französische Briefe schreiben, eine leichtfertige gepuderte Perücke tragen, Voltaire einladen, aber Voltaire ist hier in Preußen nie richtig heimisch geworden. Er paßte nicht zum spezifischen Gewicht dieses Landes. Es wurde doch wieder Hegel und Jünger. Gewogen und zu leicht befunden. Ein amüsanter Plauderer, kein wirkliches Schwergewicht, ein Schmetterling. Nicht genug Marmor. Zuviel Ironie. Das Verrückte ist, daß die Franzosen heute Jünger und Heidegger hinterherlaufen. Sie hatten Diderot und Voltaire, jetzt haben sie Derrida. Zu viele Worte. Die haben auch die Orientierung verloren, genau wie hier.«
    Und als müßte das demonstriert werden, führte er kurz darauf ein kleines Ballett mit einem deutschen Ehepaar auf, das genau in dem Augenblick die Freitreppe herunterkam, als Victor, der ein paar Meter vor Arthur ging, sie hinaufgehen wollte. Als Victor etwas nach rechts treten wollte, um dem Ehepaar auszuweichen, zog der Mann seine Frau nach links, so daß sie sich wieder frontal gegenüberstanden. Aber als Victor erneut einen Ausweichversuch unternahm, hatte das Ehepaar gleichzeitig einen Schritt nach rechts getan, so daß der Bildhauer nun regungslos stehenblieb und das Ehepaar in einem Bogen um ihn herumging.
    »Ist dir das nicht aufgefallen?« fragte er, »das passiert mir hier ständig. In New York oder in Amsterdam erlebt man das nicht. Sie wissen noch immer nicht, wohin sie gehen, sie haben keinen Radar.«
    Arthur hielt das für Unsinn, doch Victor war nicht davon abzubringen.
    »Ich wohne hier schon lange genug, ich weiß, wovon ich rede. Im übrigen finde ich es auch ganz sympathisch. Metaphysische nationale Unsicherheit, die ihren Ausdruck in mißglückten Tanzschritten findet. Vor fünfzig Jahren wußten sie genau, wohin sie gingen. Das ist das Merkwürdige, wenn man sie nicht einlädt, kommen sie trotzdem, und wenn man sie jetzt bittet, mitzumachen, dann wollen sie erst nicht, gerade weil sie es damals getan haben. Das ist genauso wie mit diesen Tanzschritten. Der Schreck steckt ihnen in den Knochen.«
    Im Teesalon des Schlosses waren sie kurz danach wie zwei störende Elemente behandelt worden. Die Mauer war zwar schon gefallen, doch hier herrschte noch die Volksrepublik, und das bedeutete: keine Fisimatenten, Mantel nicht auf den Stuhl neben sich legen, sondern zur Garderobe bringen, nichts verlangen, was es heute nicht gibt, auch wenn man nicht weiß, daß es das heute nicht gibt, und sich überhaupt unterwürfig den Wünschen des Personals fügen.
    »Hier haben sie noch keine Probleme«, sagte Arthur. »Die wissen genau, was sie wollen.«
    »Was sie nicht wollen. Das wird ein Prozeß von großer Schönheit. Jetzt müssen sie mit zwei Vergangenheiten zugleich auf die Couch. Die hier haben immer gelernt, daß diese andere Vergangenheit nicht die ihre war. Damit hatten sie nichts zu schaffen, sie waren keine Nazis, vielleicht waren sie ja nicht einmal Deutsche, sie brauchten nie nach innen zu schauen. Und danach noch diese vierzig Jahre. Achtung vor dem Hund. Aber ich werde es vermissen. Alles wird sich unwiderruflich verändern, und dann ist es nicht mehr mein Berlin. In Kürze wird sich niemand mehr diesen völligen Wahnsinn vorstellen können, außer den Leuten, die hier gelebt haben, und ein paar nostalgischen Narren wie mir. Aber selbst wenn sie die Mauer morgen in die Luft jagen, man bekommt sie nicht weg. Merke dir, mein Freund, es gibt immer ein paar, die es sich ausdenken, allen anderen widerfährt es. Und die haben dann Pech gehabt. Vierzig Jahre, das ist ein Leben. Eine gewisse Bescheidenheit unsererseits ist folglich angebracht.«
    Wie lange war dieses Gespräch jetzt her? Fünf Jahre, sechs Jahre? Licht, ein erster Hauch von Licht kroch am Fenster hinauf. Er konnte die hohe Form der Kastanie erkennen, die auf dem Innenhof stand. Gut und gerne dreißig Wohnungen hatten Ausblick auf diesen Baum. Er hatte mal erwogen, bei allen Bewohnern um die Erlaubnis zu bitten, den Baum aus ihren Fenstern aufnehmen zu dürfen, hatte jedoch darauf verzichtet, nachdem sich drei voller Argwohn geweigert hatten. Statt dessen hatte er den Baum in den vergangenen Jahren in jeder Jahreszeit aufgenommen. Das war nun also das erste, was er tun würde, sobald es etwas heller war. Filmen war besser als denken. Nicht quatschen – putzen! Er stand auf, um Kaffee zu kochen. Hinter den Fenstern der meisten Häuser brannte bereits Licht. In diesem Land stand man früh auf. Fleiß. Er liebte es, sein

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