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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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das, ganz abgesehen von der biologischen Unmöglichkeit, daß aus einem Wurm ein Falter wurde, in all seiner luftigen Flüchtigkeit auch nicht das richtige Bild, schon gar nicht, wenn dieser arme Falter dann auch noch zum Thron des Jüngsten Gerichts würde flattern müssen. Nein, Dante hatte ihn im Stich gelassen. Oder war es das Hefebier gewesen? Auch möglich. Jedenfalls verstand er nicht mehr, warum er diese Verse letzte Nacht so bedeutungsvoll gefunden hatte.
    Daß Zenobia Stejn in diesem Augenblick dieselben Verse auf englisch las, konnte natürlich keiner von ihnen ahnen. So ein Zufall wäre ihnen auch reichlich verrückt vorgekommen, wenngleich nicht unmöglich in einem Universum, das Zenobia zufolge ausschließlich aus Zufall bestand, wenngleich ihm in diesem Fall die Allgegenwärtigkeit Dantes in sämtlichen Sprachen zu Hilfe kam. Zenobia war auch keineswegs darauf erpicht gewesen, Dante zu lesen, sie hatte ihn nicht mal im Haus. Vielmehr war sie auf der letzten Seite eines Buches eines Physikers auf dieses Zitat gestoßen und nicht sonderlich beeindruckt davon gewesen, nicht zuletzt weil das metaphysische Element dieses Buches ihr Mißtrauen erregte. Ihre Wohnung besaß keine Zentralheizung, und sie hatte noch keine Lust, den Ofen anzumachen. Daher blieb sie, das Buch mit einer Hand umklammernd, noch etwas liegen und starrte auf diese Zeilen. Infinite in All Directions . Dyson war einer der Großen in der Theoretischen Physik, unbestritten, aber was hatte es bloß mit diesem Zwang auf sich, um jeden Preis etwas glauben zu wollen? Ohne Gott ging es offenbar nicht, nicht einmal für Einstein mit seinen Würfeln, und sie mußte zugeben, daß die Variante, die Dyson aufs Tapet brachte, etwas Reizvolles hatte, ein Gott, den es noch nicht gab, ein unvollkommenes Wesen, das mit seiner eigenen unvollkommenen Schöpfung mitwuchs.
    Sie selbst glaubte nicht an Gott, aber ob man alles, was man nicht verstand, nun als Rätsel bezeichnete oder als Zufall oder dann doch wieder ganz einfach als Gott, wenn einem das besser in den Kram paßte, spielte schließlich keine so große Rolle, und wenn man überhaupt an etwas glauben mußte, dann vielleicht doch lieber an einen schwachen, menschlichen Gott, der inmitten all dieses Elends auf der Suche nach seiner eigenen Erlösung war, oder an einen, der erst noch wachsen mußte, sofern man das, was das Universum tat, als Wachsen bezeichnen konnte. Jemand hatte Dyson offenbar erzählt, daß seine Ideen mit einer frühen Ketzerei von Socinius übereinstimmten. Das war vielleicht noch das Schönste daran. Spekulationen, gleich welcher Art, hatten sie immer beschäftigt, und der Gedanke, daß jemand im selben Italien wie Thomas von Aquin und Galileo Galilei einen Gott erdacht hatte, der nicht allwissend und nicht allmächtig war, amüsierte sie, doch was Dyson damit verband, war doch wirklich reine Spekulation, nun aber eine, die nicht das sechzehnte Jahrhundert als mildernden Umstand anführen konnte. Was für Hirngespinste am frühen Morgen! Es würde gar nicht so einfach sein, diesen Artikel über Dyson zu schreiben. »Gott lernt und wächst, während das Universum sich entfaltet« – gut, aber keinen Unterschied mehr machen zu wollen zwischen dem Geist und Gott, indem man Gott als dasjenige definierte, was der Geist wird, wenn er die Grenzen unseres Verständnisses überschreitet, da sträubte sich alles in ihr, würde das doch bedeuten, daß alles, was wir nicht verstehen, automatisch Gott wird, oder, noch anders, falls sie ihn richtig verstand, daß wir, wenn wir nicht mit ihm mitwachsen, leider zurückbleiben müssen. Dann lieber zurückbleiben. Warum hielt er es überhaupt für nötig, an etwas zu glauben? Eine Antwort würden sie zu Lebzeiten ja doch nicht mehr bekommen, und danach auch nicht. Andererseits, daß die Menschheit ein ganz netter Auftakt war, aber noch lange nicht der Weisheit letzter Schluß, besaß den Charme der Vorläufigkeit, dann schimmerte etwas in der Ferne, wofür selbst sie nicht unempfänglich war, etwas, das eher ihrer Fotosammlung entsprach als ihrer wissenschaftlichen Arbeit, und dieser Gedanke brachte sie zu Arthur Daane und zum Wodka der vergangenen Nacht. Hinter diesem verschlossenen holländischen Gesicht spielte sich alles mögliche ab, worüber geschwiegen wurde, soviel war sicher, man konnte es daran erkennen, wie er stundenlang schweigend ihre Fotosammlung betrachten konnte. Es mußte etwas mit dem zu tun haben, was ihm widerfahren war,

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