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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Chemie der Nacht diese Gedanken verformt, das Netz aufgeribbelt. Dann müssen sie wieder von vorn anfangen. So läuft das bei ihnen.
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Die englische Stimme füllte das Zimmer mit Toten und Verletzten. Arthur Daane war daran gewöhnt, mit dem BBC World Service aufzuwachen, als wäre er der Welt in anderen Sprachen noch nicht gewachsen. Meist war er dann eigentlich schon wach und wartete auf diese männlichen oder weiblichen Stimmen, die immer als erstes erzählten, welcher Name zu ihnen gehörte. Vielleicht glaubten sie, daß die dann folgenden Greuel, Anschläge, Aufstände, Truppenbewegungen, Orkane, Mißernten, Überflutungen, Erdbeben, Zugunglücke, Prozesse, Skandale, Folterungen leichter zu ertragen wären. Jemand erzählte es einem, jemand mit einem Namen und einer Diktion, die man nach einiger Zeit als zu diesem Namen gehörend erkannte, so daß die Ereignisse im Irak, in Afghanistan, Sierra Leone, Albanien genauso wie die Gesundheit des Dollar, die Erkältung des Yen, die vorübergehende Unpäßlichkeit der Rupie das Air einer Familienangelegenheit bekamen.
    Jemand hatte ihm mal erzählt, daß, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, eine dieser Stimmen die Sendung unterbrochen hatte, um der Welt diese Neuigkeit mitzuteilen, und daß dieselbe gelassene, beruhigende, ungerührte Stimme, die über der Welt zu schweben schien, fünf Jahre später, als der Krieg vorbei war, ihre damals unterbrochene Sendung mit den Worten fortgesetzt hatte: »As I was saying …«, womit sie diesen ganzen Krieg auf eine Lücke reduzierte, eines der Dinge, die ständig passieren, passiert sind und wieder passieren werden.
    An diesem Morgen jedoch war er noch nicht wach, als die Stimme, diesmal eine Frau, genau um sieben Uhr in sein Gehirn stürmte und sich dort mit der Nachhut dessen vermischte, was ihn bis zu diesem Augenblick offenbar beschäftigt hatte, sich im selben Moment aber schon nicht mehr ausliefern wollte, so daß, als er das Radio ausgeschaltet hatte, keine Spur mehr von was auch immer übrigblieb. Die englische Frauenstimme, die mit einem leicht schottischen Akzent gesprochen hatte, war mit einem vermummten Traumfragment auf und davon. Hinter dem vorhanglosen Fenster herrschte noch Dunkelheit. Er blieb unbeweglich liegen, um den Gedanken, die unwiderruflich kommen mußten, zu entrinnen, eine rituelle Gewissenserforschung, bei der nicht nur die Gespräche der vergangenen Nacht und die Handlungen des vorangegangenen Tages, sondern auch der Augenblick und der Ort, an dem er sich befand, überdacht wurden, eine jesuitische Disziplin oder gerade das Gegenteil davon, luxuriöse Sinniererei eines Menschen, der keine Pflichten hatte. Doch dieses Zuviel an Zeit war, was er gewollt hatte, was es ihm ermöglichen sollte, an seinem ewigen Projekt zu arbeiten. Wußte er eigentlich genau, was er damit wollte? Wieviel Zeit gab er sich selbst dafür? Würde es je fertig werden? Oder spielte das keine Rolle? War es nicht nötig, eine präzise Form dafür zu finden, eine Komposition? Andererseits, er arbeitete mit Material, das sich gerade anbot, mit Bildern, auf die er zufällig stieß. Die Einheit bei diesen Bildern bestand darin, daß er sie ausgewählt und aufgenommen hatte. Vielleicht, dachte er, konnte man das mit Dichten vergleichen. Sofern er irgend etwas von den völlig auseinandergehenden Äußerungen verstanden hatte, die Dichter darüber machten, gab es auch bei ihnen kein festes Schema, außer daß die meisten doch von einem Bild, einem Satz, einem Gedanken ausgingen, der ihnen plötzlich in den Sinn gekommen war und den sie notiert hatten, ohne, in einigen Fällen, selbst viel davon zu begreifen. Wußte er nun genau, warum er gestern abend diese Szenen auf dem Potsdamer Platz gedreht hatte? Vielleicht nicht, aber immerhin wußte er, daß diese Bilder »dazu«gehörten. Wozu, könnte man dann zu Recht fragen. An einen Film konnte man schließlich andere Anforderungen stellen als an ein Gedicht. Außer daß dies ein Film ohne Auftrag war, einer, den er selbst bezahlte, weil er ihn nun mal machen wollte, vielleicht also doch so, wie ein Dichter ein Gedicht machen wollte.
    War es lächerlich zu sagen, daß ein Gedicht, gleichgültig, wie klein es war, um die Welt ging? Er machte einen Film, auf den niemand wartete, genauso wie seines Wissens niemand je auf ein Gedicht wartete. Dieser Film, das wußte er genau, würde etwas über die Welt zum Ausdruck bringen müssen, wie er, Arthur Daane, sie sah. Aber er würde auch in

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