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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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seiner Sammlung. Er gab keine Antwort.
    »Was filmst du denn?«
    »Straßen, Schnee, Bürgersteige …«
    »Kannst du hier auch haben.«
    »Nein, zu schön, zu pittoresk. Nicht genug Geschichte. Kein Drama.«
    »Genug Geschichte, aber …«
    »Nicht schlimm genug. Keine Macht.« Er mußte an Zenobia denken und sah eine Szene vor sich, die er vor einigen Jahren auf dem Weg nach Potsdam gedreht hatte. Er hatte an einer Kreuzung anhalten müssen, die von einer russischen Kolonne überquert wurde, eine endlose Reihe von Männern zu Fuß, grobe Stiefel, Mützen weit zurückgeschoben. Den Gesichtern nach kamen sie aus sämtlichen Regionen des sowjetischen Imperiums, Kirgisen, Tschetschenen, Tartaren, Turkmenen, ein ganzer Kontinent zog da über die Straße, zurück in das auseinanderfallende Vaterland. Er hatte sich gefragt, was sie wohl dachten, was sie in diesen Köpfen mitnahmen, jetzt, da sie, zurückgekehrt als Verlierer aus dem Land, das sie einst erobert hatten, wieder bis in die entferntesten Weiten Asiens ausschwärmten. Aber damit konnte die Geschichte nicht zu Ende sein. Vielleicht war es das, was ihn hier hielt. Hier wurde ständig an einem gezogen, Ebbe und Flut. Hier wurde, viel stärker als irgendwo anders, das Schicksal Europas gebraut. Er versuchte es zu erklären.
    »Prost Mahlzeit.«
    »Gute Nacht.«
    »Bist du beleidigt? Seit du ständig in Berlin bist, nimmst du alles so fürchterlich schwer. Fahr doch mal wieder nach Spanien. Geschichte wird ja langsam zur Obsession für dich. So lebt niemand, meiner Meinung auch die Deutschen nicht. Wo ein anderer Zeitung liest, liest du Geschichte. Bei dir wird eine Zeitung gleich zu Marmor, glaube ich. Das ist doch Unsinn! Und derweil vergißt du schlichtweg zu leben. Du hast viel zuviel Zeit zum Nachdenken. Mach doch mal wieder ein paar Werbespots. Jeder geht an Standbildern vorbei, aber du mußt sie sehen , das ist doch ein Tick, oder nicht? Früher …«
    »Ja, früher, früher. Früher war ich ganz anders, das wolltest du doch sagen?«
    Früher, das war vor Roelfjes Tod, das bedurfte keiner Erläuterung. Aber er wußte nicht mehr, wie er früher gewesen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, und weiß der Himmel, er hatte es versucht! Eigentlich war es, als hätte er früher nicht existiert, jedenfalls kam es ihm so vor. Schuljahre, Lehrer, davon war kaum etwas geblieben. Er lebte mit Fragmenten. Aber wenn man das sagte, klang es so blöd. Und doch war es so, ein Teil der Buchhaltung war weg, verschwunden. Es war Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Erna würde etwas in der Richtung sagen, er solle sich lieber mit seiner eigenen Geschichte beschäftigen, aber das wollte er nicht hören. Es war gut, wie es war, dieser Mann auf dem Foto konnte ein Fremder bleiben. Er selbst hatte jetzt anderes zu tun.
    »Ich stelle mich neben dich ans Fenster«, sagte er.
    »Und legst deinen Arm um meine Schulter?«
    »Ja.«
    »Dann gehen wir jetzt schlafen.« Und schon hatte sie aufgelegt. Er lauschte noch eine Weile der Stille und ging dann zu Bett.
    *
    * *

Und wir, die wir von unserer Lichterwelt aus auf das Merkwürdige in ihrer Welt blicken, was sehen wir? Wie sie in ihren Betten liegen, wie sie, wie Zenobia sagt, sich von vertikalen Wesen plötzlich in horizontale verwandeln. »Von der Welt gefallen«, nennt sie das, als wären sie nicht mehr von ihrer Welt. Für uns ist ihr ganzes Dasein Bewußtlosigkeit, Betäubung, Schlaf. Darin ist der kleinere Schlaf, in dem sie sich nun befinden, eine Verdoppelung. Sie glauben, daß sie sich ausruhen, und in der Entwurzelung ihres Lebens stimmt das auch. Aber so entfernen sie sich auch weiter von uns. Sie weigern sich nicht, wie die meisten, man könnte sogar sagen, daß sie, jeder auf seine oder ihre Weise, an die Rätsel rühren, aber das ist nicht genug. Die falschen Türen, die falschen Wege. Mehr als wir tun, können wir nicht tun, unsere Macht, sofern es eine ist, endet bei diesem Beobachten, beim Lesen von Gedanken, so wie ihr ein Buch lest. Wir müssen folgen, wir blättern die Seiten um, hören die Worte ihrer halb schlafenden Gedanken, hören, wie sie sich, während sie in ihren dunklen Zimmern in der verschneiten Stadt liegen, in diesen Gedanken aufeinander zu bewegen, vier Spinnen, die an einem Netz weben, das, was nicht geht. Sie lassen die Worte dieses Abends noch einmal zurücklaufen, sagen, was sie vor ein paar Stunden nicht gesagt haben, Fragmente, Fäden, die fehlenden Fetzen. Morgen, wenn sie aufwachen, hat die

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