Allerseelen
eigenes Licht auszulassen und zu all diesen Menschen, die sich in ihren Zimmern bewegten, hinüberzuschauen. Daß er sie nicht kannte, spielte keine Rolle oder machte gerade den Reiz aus. So hatte er doch noch teil an einer Gemeinschaft, wobei es dieser Baum war, der sie alle verband.
Die einzige, die ihm damals ihre Zustimmung erteilt hatte, war eine sehr alte Frau, die drei Stockwerke über ihm wohnte. Von ihrem Fenster aus konnte er genau in die Baumkrone schauen.
»Ich habe ihn noch gekannt, als er ganz klein war. Ich habe hier schon vor dem Krieg gewohnt. Alles hat er überlebt, Bombenangriffe der Engländer, alles. Mein Mann ist in Stalingrad geblieben. Seitdem wohne ich hier allein. Sie sind der erste, der so was vorhat, aber ich kann es verstehen, ich rede oft mit meinem Baum. Und er ist im Laufe der Zeit immer näher zu mir herangerückt. Sie können sich nicht vorstellen, was das bedeutet, wenn sich jedes Jahr wieder Knospen und Blüten bilden. Dann weiß ich, daß ich wieder ein Jahr gelebt habe. Richtige Gespräche führen wir, vor allem wenn es draußen kalt zu werden beginnt. Unsere Winter sind so lang. Wenn er über mein Fenster hinausgewachsen ist, dann gibt es mich nicht mehr.«
Sie deutete auf das Foto eines jungen Mannes in Offiziersuniform, das auf der großen Anrichte stand. Dreißiger-Jahre-Frisur, blond, zurückgekämmtes Haar. Er lachte der sehr alten Frau zu, die er nicht wiedererkannte, und dem jungen, eigenartig gekleideten Fremden.
»Ich erzähle ihm von dem Baum, wie groß der geworden ist. Alles andere kann er nicht verstehen, wie alles geworden ist. Ich trau mich nicht, ihm das zu erzählen.«
Manchmal sah Arthur sie noch auf der Straße oder auf der Treppe. Sie erkannte ihn nie. Äußerst langsam dahinschlurfend in solchen großen grauen Schuhen, die nur alte Frauen in Deutschland noch trugen. Lodenmantel, engschließender Filzhut mit Feder.
Das Telefon klingelte, aber er nahm nicht ab. Jetzt niemand, jetzt wollte er den richtigen Augenblick für das Licht abwarten. Es würde nicht viel dabei herauskommen, vielleicht noch nicht einmal eine halbe Minute, statisch, fast ein Foto. Aber es mußte sein. Kein Tag ohne Regel, das galt auch für ihn. Seine Regeln waren Bilder. Er schaute auf den Baum. Ein Turm voll Schnee. Nur ein japanischer Meister konnte damit etwas anfangen. Der Schnee hatte den Baum noch einmal gezeichnet, fast so, als hätten die Äste darunter keine Funktion mehr. Dort könnte auch ein Baum ganz aus Schnee stehen, eine weiße, gefrorene Skulptur aus weißestem Marmor. Aber er mußte noch mindestens zehn Minuten warten. Mit weniger als 500 ASA würde es nicht gehen.
Im selben Augenblick überlegte Arno Tieck, ob er zum Frühstück Müsli oder Toast essen sollte, kehrte dann aber doch wieder zu dem Gedanken zurück, mit dem er wach geworden war und der etwas mit ein paar Versen aus dem Purgatorio zu tun hatte, über denen er am Abend zuvor eingeschlafen war. Er hatte die Angewohnheit, vor dem Schlafengehen, gleichgültig ob er nun tüchtig gebechert hatte oder nicht, irgendein beliebiges Buch aus dem Schrank zu nehmen und darin eine ebenso beliebige Seite zu lesen, die ihn dann ins Reich des Schlafes begleiten würde. Er las diese Zeilen laut, und oft hatte er dabei seine eigene Stimme ersterben hören. Dann war es die Stimme eines anderen geworden, eines Menschen, der aus der Ferne zu ihm sprach und den er nicht sehen konnte.
Das Fegefeuer war nicht sein Lieblingsbuch, doch zu dieser späten Stunde war es ihm wie so oft vorgekommen, als beinhalteten die Zeilen, die er zufällig las, einen Fingerzeig auf das, womit er sich gerade beschäftigte. Er setzte die Brille auf und suchte mit der rechten Hand nach dem Buch, das irgendwo neben dem Bett auf dem Boden liegen mußte.
Ihr laßt euch, stolze Christen, so verleiten,
Daß ihr, am Auge eures Geistes blind,
Vertrauen habt allein beim Rückwärtsschreiten.
Seht ihr nicht, daß wir alle Würmer sind
Für eines Himmelsschmetterlings Entfaltung,
Der wehrlos zum Gericht den Flug beginnt!
las er und fragte sich, ob er wohl diese Verse in den Essay, den er über Nietzsche schrieb, einbauen konnte, doch der Mensch als Wurm war nun nicht gerade ein nietzscheanischer Gedanke, es sei denn, man meinte damit so etwas wie die verachtenswürdigen letzten Menschen, und die kümmerten sich schon gar nicht um eine transzendente Welt, in der sie einst vor Gericht würden stehen müssen. Und was diesen Falter anging, so war
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