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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Während sie sich verabschiedeten, hörten sie von ferne die Sirene eines Rettungswagens näher kommen.
    »Das ist heute schon der ich weiß nicht wievielte«, sagte Arthur. »Man könnte meinen, die Sirenen verfolgen mich.«
    »Sirenen verfolgen einen nicht«, antwortete Zenobia, »sie locken einen zu sich.«
    »Und dann weißt du ja, was du tun mußt, lieber Freund«, sagte Arno, »laß dich von uns an den Mast binden. Denn das Schiff muß weiter.«
    Ohne sich umzudrehen, sah Arthur, wie sie jetzt alle vier, jeder in seine Richtung, gingen, Arno nach Süden, Victor nach Norden, Zenobia nach Osten, er selbst nach Westen, wo der Schnee auch herzukommen schien. So beschrieben sie zum zweitenmal an diesem Abend ein Kreuz durch die verschneite Stadt, erst jeder für sich, aufeinander zu, jetzt gleichzeitig, voneinander weg. Bei solchen Gedanken stellte sich Arthur immer eine Kamera vor, die irgendwo da oben, wo man jetzt wegen der wirbelnden Flocken nicht hinschauen konnte, ihren vierfachen, getrennten Gang aufnehmen würde, bis sie, jeder am Ende seines Weges angekommen, das Kreuz mit ein paar komischen Schlenkern vollendet hätten. Danach gehörten sie sich wieder selbst, Menschen, allein in ihrer merkwürdigen steinernen Behausung, Bewohner einer Großstadt, mit plötzlich schweigenden Mündern. Manchmal wurde er so sein eigener Voyeur, jemand, der sich vorstellte, wie jemand anderer, der er selbst war, ihn beim Nachhausekommen, selbst unsichtbar, heimlich beobachtete. Es ließ sich nicht ändern, daß dabei jede Bewegung und jede Handlung theatralisch wurde, ein Film ohne Plot. Ein Mann, der die Eingangstür öffnet, sich den Schnee vom Mantel klopft, den Mantel auszieht und noch einmal an der Tür ausschüttelt, dann in dem großen Berliner Treppenhaus nach oben geht, eine zweite Tür öffnet und in seinem Raum steht. Und jetzt? Am Spiegel vorbei ohne hineinzuschauen, drei, das ist zuviel. Er streicht mit der Hand über die Kamera, die er sich nie nur als Gegenstand vorstellen kann, er sieht das Foto einer Frau, eines Kindes, den Mann, der daneben steht, wie, wo, wann, er muß dabei aussehen wie einer, der weiß, daß er nicht gesehen wird, stärker noch, dieser Gedanke darf nicht einmal in ihm aufkommen, aber wie sieht er aus?
    Er sucht unter seinen CDs, schiebt eine in seinen tragbaren CD-Player, Winter Music, John Cage, Stille, Geräusche, Stille, vehemente Geräusche, Stille, langsame Töne. Die Stillephasen unterscheiden sich nur durch ihre Dauer, dadurch wird ihm klar, daß all diese Pausen ebenfalls Musik sind, gezählte Stille, Takte, Komposition. Es fühlt sich an wie verlangsamte Zeit, falls es so etwas gibt. Diese Musik muß er den Bildern unterlegen, die er am Abend aufgenommen hat, das weiß er schon jetzt, weil Musik, die die Zeit dehnt, auch den Raum des Bildes dehnt.
    Er erschrickt, als das Telefon klingelt. Ein Uhr. Das kann nur Erna sein.
    »Was hast du gerade gemacht? Wo warst du heute abend?«
    »Ich war mit Freunden aus. In einem Weinlokal. Da ist jemand gestorben.«
    »Oh. Was für ’ne komische Musik läuft da bei dir?«
    »Cage.«
    »Keine Musik zum Einschlafen.«
    »Ich ging auch noch nicht schlafen. Ich habe noch ein bißchen nachgedacht.«
    »Worüber? Oder hast du Besuch?«
    »Nein. Ich habe gerade darüber nachgedacht, daß Uhren in Zimmern von Alleinstehenden langsamer gehen.«
    »Haben wir Mitleid mit uns selbst? Ich bin auch allein.«
    »Anders. Schneit es bei euch auch so?«
    »Ja. Was meinst du mit anders? Weil ich Kinder habe?«
    »Auch. Du wohnst mit Leuten zusammen.«
    »Muß ich mir Sorgen um dich machen?«
    »Keineswegs. Ich habe einen äußerst geselligen Abend verbracht. Zusammen mit drei anderen Leuten, von denen zwei auch allein leben. Wir sind in der Mehrzahl. Die Zukunft gehört den Einsiedlern. Don’t worry.«
    »Arthur?«
    »Ja?«
    »Hast du nicht ein kleines bißchen Heimweh? Es hat gefroren, auf der Gracht liegt Schnee, morgen können wir Schlittschuh laufen.«
    Erna wohnte an der Keizersgracht. Er sah es vor sich. Dritter Stock.
    »Stehst du am Fenster?«
    »Ja.«
    »Gelbes Licht aus den Laternen. Schnee auf den Autos. Nächtliche Gestalten, die sich am Brückengeländer festhalten, weil es so glatt ist.«
    »Stimmt. Und du hast kein Heimweh?«
    »Nein.«
    »Hast du Arbeit? Hast du einen Auftrag?«
    »Nein. Will ich auch nicht. Ich schaff es noch eine Weile so. Es kommt schon wieder was. Ich bin beschäftigt.«
    »Mit Rumwurschteln?« So nannte Erna die Arbeit an

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