Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
werden in unser eigenes Haus ziehen. Ich werde die Ärmel hochkrempeln und soviel wie möglich selbst renovieren. Die Arbeit wird Spaß machen, weil es was Eigenes ist, die Hauptsache ist, dass die ganze Familie wieder zusammenlebt. Auch wenn ich mich dafür verhalten muss wie ein ... Politiker!«
»Und wenn jemand nachfragt? Wenn rauskommt, dass du Stoltefuss Geld angeboten hast?«
»Ich werde nichts dazu sagen. In der Politik besteht die Klugheit nicht darin, auf Fragen zu antworten. Die Kunst besteht darin, sich keine Fragen stellen zu lassen.«
»Ich glaube, da lerne ich noch ein paar neue Seiten an dir kennen.« Lotte spitzt ihre Lippen zu einem Kuss.
Sie spüren sich, ihre Nähe, ihre Liebe, die Hoffnung auf die Zukunft, und Lotte hört die Vögel in der Hecke bei der Bushaltestelle, hört fröhliche Kinder, die den Frühling begrüßen und, eine schattige Ahnung verscheuchend; auch sie möchte glauben, dass alles gut wird.
3
Jetzt und hier, Anfang April 1968, haben Passanten ihre Wintermäntel eingemottet und wirken voller Spannkraft, Hoffnung und Lebensfreude in dieser beständig optimistischen Zeit der Erneuerung und des Aufschwungs, einer Dekade der Hoffnung, in der sogar Stümper zu tauglichen Minnesängern ihrer Zukunft werden, bis ihre Stimmen nach innen jubilieren wie die jener Rückkehrer einer Winterreise, die im Geäst der Linde dort und drüben in der Birke lautstark den leisen Frühlingsabend und den Sommer herbeisehnen.
Gina und Ottilie haben ihren Einkaufsbummel beendet. Sie sind auf der Zeil, wie die große Einkaufsstraße in Frankfurts Innenstadt heißt, und sitzen erschöpft auf einer Steinbank vor dem Kaufhaus Schneider.
Wie schön dieser frühe Abend ist.
Wie lebensbejahend, völlig sich selbst vertrauend.
Einige Jugendliche schlendern vorüber und debattieren lautstark über die Message hinter Kubricks Film 2001 – Odyssee im Weltraum , der seit zwei Wochen in den deutschen Kinos alle Rekorde bricht, eine hagere Frau schiebt ihren altmodischen Korbkinderwagen über den Platz, ein Schäferhund bepinkelt an einer Litfaßsäule zerfledderte Plakate, die für Peter Handkes Publikumsbeschimpfung werben, ein Penner faltet seine karierte Decke zusammen und schüttet die Groschen aus der Mütze in die Handfläche, wobei seine Lippen ebenso feucht glänzen wie seine Augen, RinTinTin trabt seines Weges, herrenlos, mit wedelnder Rute und einem Hundelächeln auf der Schnauze, drüben macht sich ein Bediensteter an den Kaufhaustüren zu schaffen, während zwei späte Besucher, ein Pärchen, sich am Türschließer vorbeischlängeln und das Kaufhaus verlassen.
Der Mann, südländischer Typ, hat eine Aktentasche unter dem Arm. Die Frau, hager mit strähnigen Haaren, folgt ihm. Beide wirken wie Diebe, die sich noch eben schnell im Kaufhaus bedient haben. Sie rennen los, blicken sich dabei um, wobei der Mann über Ginas Einkaufstüten stolpert, deren Inhalt auf das Pflaster kullert.
»He, was soll das?«, erschreckt sich Gina und springt auf.
Spinnt der?
Kann der nicht die Augen aufmachen?
Das teure Parfüm ...
Der Mann bleibt stehen, wischt sich mit einer fahrigen Bewegung das Haar aus der Stirn, nickt verlegen, kommt zurück, kniet nieder und hilft ihr, die Einkäufe in die Tüte zu sammeln. Kosmetika, Schmuck in eleganten Verpackungen, Tand und Torheiten, halt alles, was Spaß macht. Auf halber Höhe begegnen Ginas Augen denen des Mannes. Er lächelt schräg. »Du brauchst diesen Scheiߧ nicht.« Seine Stimme ist warm und eindringlich. Er wirft ein Schminktöpfchen in die Tüte. »Konzentriere dich auf Wichtigeres! Befreie dich aus dem KZ der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Mit diesem Theater hier machst du die Faschisten nur noch reicher.«
Die hagere Frau tritt nervös von einem Bein auf das andere. »Nun mach schon.«
»Ja, ja – ist gut.« Der Mann sieht zu seiner Begleiterin auf und erhebt sich.
Dann sind sie in einer Seitengasse untergetaucht wie Geister.
»Was sollte der Blödsinn?«, fragt Ottilie.
»Studentengewäsch«, meint Gina verächtlicher als ihr zumute ist.
»Der schmeißt deine Einkaufstüte um und hat nichts Besseres zu tun, als politische Floskeln zu dreschen«, sagt Ottilie. »Aber er sah ziemlich gut aus, stimmt’s?«
Gina zieht ihre Bluse glatt. Sie mustert Ottilie. Sie ist ein stilles Mädchen. Redet nicht viel, als beherberge sie ein inneres Schemen, mit dem sie kommuniziert, was ihr zu genügen scheint. Mehr als genug hat Gina
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