Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
vier Wochen jammern und brüllen wie Dämonen, die aus Schlamm und Blut geboren, ihr Begehren nach Tod ausspeien.
Wenn Otto das hört, ist ihm zum Kotzen. Dann ist er in sich und seiner Innenwelt verloren, ihr ausgeliefert wie ein kleines Kind, dem die böse Hexe nicht nur einen Finger, sondern gleich den ganzen Arm abgeschnitten hat.
Ihn quälen Schmerzen, die nicht lokalisierbar sind, Feuer laufen über seinen Rücken, seine Haare stellen sich borstig auf wie die eines angstgelähmten Kaninchens und sein Hodensack schrumpelt hart zusammen.
Und es quälen ihn Stimmen.
Otto ist weder verrückt, noch sonst wie gestört.
Vielmehr ist er ein Kind seiner Zeit, ein Kind, dessen Füße durch blutige Pfützen gewatet sind, dessen Finger vom Geruch der Toten gestunken haben, dessen Ohren bald geplatzt sind vom Bersten und Dröhnen der Bomben und der Menschenschreie, dessen Glieder gepeinigt wurden vom mangelnden Schlaf und dessen Magen viel zu lange bis zum Gehtnichtmehr verkleinert war vor Nahrungsmangel.
Es sind die Stimmen der Verlorenen, die er noch immer hört.
Und die der Ermahner, der Pflichtrufer.
Die Stimme seines Gewissens.
Ja, wenn es diese wirklich gibt – dann hört Otto sie.
Sie lachen hämisch und weinen dabei.
Denn alles kommt zusammen:
Sirene und Unvermeidlichkeit!
Heute Nachmittag hatte Otto erfahren, dass Frank Wille bei der Frankfurter Rück angerufen hatte, um sich nach dem Stand seiner Police zu erkundigen. Die Sekretärin hatte umgehend einen Brief geschrieben, der schon unterwegs nach Bergborn war. Ottos Beine waren weich geworden, ätzende Säure schoss seine Kehle hoch, Hitze stieg in seinen Kopf und in seinem Magen erschuf sich ein Geschwür, welches ihn zehn Jahre später umbringen wird.
Wie paralysiert legte Otto den Hörer auf die Gabel, stapfte, verfolgt von fünf Augenpaaren, durch das Außendienstbüro und fuhr umgehend nach Hause, bereit, Gina alles zu beichten, sich in ihrem Arm auszusprechen, seinen Mangel an Aufrichtigkeit zu gestehen. Aber Gina ist in Frankfurt – wie konnte er das nur vergessen?
Otto hat ein Bad genommen und bemerkte, dass heißes Wasser die bösen Geister nicht vertreibt.
Erhitzt versucht er seinen Fokus zu finden, wie ein Verdurstender, der tagelang nach einer Quelle Ausschau hält.
Nun sitzt er nackt auf der Couch im Wohnzimmer, während es draußen über der Stadt heult und summt, und starrt auf den Fernseher, wo Sport, Spiel, Spannung mit Klaus Havenstein läuft und versucht, seine Ohren ebenso wie seine Gedanken zu verschließen. Aber das Gewissen, die Stimme der Seele, will nicht verstummen und Otto kann sie nicht ausschließen, so sehr er sich ihr widersetzt.
Er starrt in das schwappende Braun des Weinbrands im Glas und versucht sich weiszumachen, dass das Leben doch eigentlich zum Lachen ist, aber es gelingt ihm nicht. Diese vertrackte Situation verlangt die Klugheit einer Schlange, den Mut eines Löwen und die Sanftmut einer Taube und Otto ist sich nicht bewusst, diese Tugenden zu besitzen.
Jetzt, da er sein Ziel erreicht hat – Bezirksdirektor! – erscheint ihm sein Hunger nach Macht absurd. Er hat, was er wollte und begehrt es nicht mehr. War er glücklicher gewesen, als er noch Wünsche hatte? Er hatte wie ein Kind unbegrenzt gewünscht und vergessen, dass er kein Kind, sondern ein Mann war. Dies eröffnete sich ihm schon bald, nachdem man ihn feierlich zum Bezirksdirektor der Geschäftsstelle Berlin erhoben hatte und schnell kam er sich vor wie ein Verlorener im Kosmos der Betriebsamkeit.
Einst hatte Otto die Idee der Macht gehabt und also die Idee des Glücks damit verbunden. Auch an diesem Nachmittag wandelt Ottos Katzenjammer in der Einöde der Ideenerfüllung, bei der es besser hätte bleiben sollen.
Nun wird alles herauskommen, wird man ihn, Otto Jäckel, an den Pranger stellen.
Mit den Fingern auf ihn zeigen.
Verräter!
Betrüger!
Feigling!
Du hast deine Familie für deinen Vorteil benutzt.
Erst rettest du deine Schwester!
Dann vernichtest du sie!
Er gießt sich noch einen Attaché ein und leert das Glas.
Schließlich kommt Otto auf jenen Tag zu denken, der ihn ein für alle Mal verändern sollte, der seinen Mut wegsaugte, sein gesamtes Kontingent an Courage und Furchtlosigkeit leerte, ihm jenen Schneid abkaufte, den er für sein weiteres Leben benötigt hätte, ein Erlebnis, über das er sich noch nie mitgeteilt hat, da er, wie die meisten Menschen seiner Epoche, über die graue Vergangenheit nicht redet - warum
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