Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
versucht, jene Mauer zu entdecken, zu durchbrechen, hinter der das Mädchen kauert, das sich in unregelmäßigen Abständen die Arme zerschneidet, nie so tief, dass es wirklich gefährlich ist, jedoch stets mit ausgeprägter dramaturgischer Wirkung. Auf Fragen verneint sie, schweigt, schmollt ein bisschen, lenkt ab vom Thema, das meist keines ist und gebärdet sich willig und fleißig. Gina mag dem Arzt glauben, der sehr optimistisch meinte, das alles gebe sich, wenn die Pubertät erst einmal herum sei. Nun ist Ottilie siebzehn und sie ähnelt von Jahr zu Jahr mehr ihrem Vater. Das Puttige ihrer Gesichtszüge hat sich verloren, lediglich das Volle der Lippen mutet wie ein Kussmund an, der von einem schmalen Gesicht eingerahmt wird, die Nase wie ein Gebirgszug, der sich scharf abzeichnet, klassische Gesichtszüge mit fast schon fraulichen Wangenknochen, etwas zu hoch vielleicht, wie die von Lotte, alles umgeben von welligen hellblonden Haaren, die unmodisch weit bis über die Schultern fallen, in den Augen stets ein spöttisches Lächeln, als wisse sie von Dingen, die nur sie angehen.
»Ein Spinner«, sagt Gina und blickt dorthin, wo das merkwürdige Pärchen verschwunden ist. »Lass uns zusehen, dass wir zu Angelika kommen!«
Angelika Steinhert. Eine alte Freundin von Gina, die mit ihrer Geliebten nach Frankfurt gezogen war, sich dort getrennt hatte und nun alleine in einer Villenwohnung am Stadtrand wohnt. Selbstverständlich will man ein paar Stunden gemeinsam verbringen, und da die Busanbindung perfekt ist, machen sich Gina und Ottilie, nachdem sie die Beute ihrer Einkäufe im Hotelzimmer verstaut haben, auf den Weg.
Nach dreißig Minuten im Omnibus, in denen sie über dies und das schwatzen, sind sie am Ziel. Noch eine, zwei Straßen zu Fuß und sie langen vor einer abbruchreifen Villa an, hinter der die Sonne untergeht.
Gina klingelt. Kurz darauf wird die Tür geöffnet.
Angelika und Gina drücken, herzen sich und auch Ottilie erhält ein Küsschen links und rechts hinter das Ohr. Reingelassen werden sie nicht.
»Entschuldigt bitte, es ist etwas Unvorhergesehenes geschehen.« Angelika Steinhert zieht ein Gesicht. Da sie in derselben Schulklasse waren, ist sie so alt wie Gina, sechsundzwanzig, sieht aber viel müder aus. Die Wangen eingefallen, Schatten unter den Augen, die Haare fettig, das Gesicht ungeschminkt. Das war nicht immer so, erinnert sich Gina bitter, aber Angelika hatte schon in jungen Jahren einen Hang zu den falschen Frauen und zu Alkohol. Wenn auch ihre Wege und Ziele heutzutage wenig gemeinsam haben, schätzt Gina diese junge Frau, denn sie waren eine Zeit lang Seelenverwandte. Ohne Angelikas Fürsprache hätte Gina sich nie oder zumindest erst später aus ihrem Schneckenhaus der Bedrängnis gewagt. In gewisser Weise hat sie es dem Zuspruch dieser jungen Frau zu verdanken, den ersten Schritt in die Freiheit gegangen zu sein – in gewisser Weise? Von wegen! Angelika hatte ihr damals einen Tritt in den Hintern verpasst, der sich gewaschen hatte! – kurz vor jenem Tag im Jahre 1957, als sie dem Druck der Freundin nachgab und beschloss, gegen den Willen ihrer begriffsstutzigen Mutter die nächste Polizeistation aufzusuchen und denen die Begehrlichkeiten ihres Vaters zu schildern, sehr detailliert, damit niemand auf den Gedanken kam, man habe es mit einer fünfzehnjährigen Hysterikerin zu tun. Auch während jener danach folgenden grauenvollen Zeit der Erniedrigungen durch Presse und Justiz war Angelika nicht von ihrer Seite gewichen.
Diese Zeit hat Gina abgehärtet!
Sogar die Tatsache, dass ihr Vater, dieser klägliche Schmutzhaufen, vor wenigen Tagen erneut versucht hatte, Kontakt mit ihr aufzunehmen, obwohl sie ihm nach seiner Gefängnisentlassung vor sechs Jahren deutlich zu verstehen gegeben hatte, er möge beim Teufel bleiben, sogar diese Tatsache schreckt sie nicht.
Ich bin stark!, sagt sie sich. Ich habe Seelenstärke erlangt, Autonomie, beruflichen Erfolg, meine Boutique ist ein Betrieb der Spitzenklasse und in dieser Woche während der Modemesse werde ich ordern, womit ich meine neue und zweite Boutique im nächsten Jahr bestücke! Weil ich diejenige von uns beiden bin, die es geschafft hat.
»Es tut mir wirklich Leid, aber ich habe Besuch ...«, sagt Angelika mit einem schiefen Lächeln.
»Das macht doch nichts«, meint Gina gelinde enttäuscht. »Wir bleiben nicht lange, Geli. Nur für einen Kaffee oder so ...«
»Das ist mir unglaublich peinlich, wirklich! Aber bei mir
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