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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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komme, was da wolle.
    Eine schöne Geschichte. Fast schon kitschig. Der edle Wilde rettet den guten Deutschen.
    Eine Stunde und viele Worte später erhebt sich der ehemalige Steiger von seinem Stuhl aus der ersten Reihe, humpelt, schiebt sich auf steifen Beinen und auf Krücken zum Rednerpult.
    »Meine Damen und Herren«, beginnt er und auf seiner Stirn glänzen Schweißtropfen. »Es gäbe viel zu sagen an einem Tag wie diesem.« Seine Worte kommen tonlos und ohne Leidenschaft.
    »Meine Damen und Herren«, beginnt der Mann aufs Neue. Seine Wangenmuskeln spielen, er öffnet den Mund und schließt ihn wieder, als habe er seine Worte verloren. Er zieht ein blütenweißes Taschentuch aus dem Jackett und tupft sich die Stirn ab.
    Was ist los mit Schotter? Geht es ihm schlecht? Der sieht ja aus, als wenn er gleich umkippt, nein – er sieht aus, als wenn er an einer Kröte schluckt, die ihm den Hals verstopft und die Luft zum Atmen nimmt.
    Schotterbein reißt seine Augen auf, sein Gesicht wirkt wie Granit, zum ersten Mal in dieser Stunde findet sein Blick den seines Retters und er schleudert ein einziges Wort heraus: »Danke.«
    Das ist alles.
    Er greift nach den Krücken und schiebt sich vom Podest weg, humpelt zu seinem Stuhl, lässt sich darauf fallen und beugt sich vornüber wie einer, der auf der Toilette eingeschlafen ist.
    Mmmh – das war aber eine kurze Rede, denkt so manch einer, und die Stifte der Redakteure flitzen übers Papier.
    War wie die Rede von einem, der seinen Text vergessen hat, weder Rührung im Blick noch Zuneigung oder irgendetwas. Vielmehr hat er gewirkt wie einer, der sich verlaufen hat, verstört wie einer, der sucht und nicht findet.
    Nun ist es an Cemir, sich zu bedanken.
    Aber wofür eigentlich? Dafür, dass er sich wie ein Mensch verhalten hat?
    Er mustert einen Augenblick lang die Anwesenden, lächelt und sagt: »Biraz Deutsch konusuyorum – ich spreche nur wenig Deutsch.« Spärlicher Applaus, der diese Lüge begleitet. Recht so, Mann aus Anatolien. Wirst unsere Sprache auch nie wirklich lernen können, auch wenn du dich anstrengst, denn deutze Spak is schwere Spak, nicht wahr?
    Cemir nickt, als habe er die Gedanken der Zuschauer erraten und schmunzelt. Ich werde mich ebenso kurz halten wie mein Vorredner, denkt er und faltet das Manuskript seiner Rede, die er nicht halten wird, zusammen.
    »Meine Familie hat ein Haus in Yemite. Das ist ein kleines Dorf in einer schönen Landschaft. Kommen Sie mich besuchen. Es wird Ihnen gefallen, vielen Dank, Sag olun.«
    Cemir wartet darauf, dass der Mann im schwarzen Anzug, einer von der Bergbaugesellschaft, ihm die Medaille, die auf einem roten Kissen ruht, an das Revers heftet.
    Als dies geschieht, sucht er noch einmal den Blick von Schotterbein, doch dieser starrt auf seine glanzpolierten Schuhe, als spiegele sich darin seine Gesinnung.
     
     
     

8
     
    Manchmal hat die Erinnerung einen Geruch.
    Ihre Vergangenheit riecht nach gekochten Kartoffeln, findet Lotte. Es sind immer gekochte Kartoffeln, nie Bratwurst oder Rotkohl.
    Und manchmal hat die Erinnerung Gewicht.
    Das Gewicht des Eimers, in dem Lotte die Kartoffeln für ihren Dienstherrn schleppte, über das Feld, über den Hof, zur Küche hin, wo sie schuften musste, von 5 Uhr morgens bis weit in die Nacht hinein, damit Muttel und die Brüder etwas zu essen haben, so kurz nach dem Krieg.
    Wenn sich die Perlen ihrer Erinnerung aufreihen, sind es Kartoffeln in einer langen Reihe, manche sehen aus wie doppelköpfige kleine Monster, wie verwachsene Gnome, wie winzige Planeten, andere wieder – aber das ist selten – wie Herzen.
    Herzen in einer Reihe zum Abbürsten auf die Arbeitsplatte gelegt, schön ordentlich, denn Ordnung ist das halbe Leben.
    Von dem Kartoffelgeheimnis weiß nur sie, Lotte, und niemand sonst. Hätte sie sich freiwillig, aus unbedachter Verrücktheit vielleicht in dieses Arbeitsverhältnis begeben, könnte sie damit leben, dass es sie fast verrückt gemacht hat. Jedoch sie hatte keine Wahl.
    Damals war sie ein schlankes, zierliches Persönchen, ein Mädchen, das wie eine Frau seine Pflicht erfüllen musste. Und die der Dienstherr wie eine Frau behandeln wollte. Dieser Kretin, der gekochte Kartoffeln jedem Braten vorzog, weil es seine Vorliebe war und er deshalb dem Krieg nichts Schlimmes abgewann, da er nichts vermisste.
    Sie wie er junge Mädchen jeder erwachsenen Frau vorzog.
    Damals vergaß Lotte, dass Kartoffeln auch wie Herzen aussehen konnten, und hätte niemals zu

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