Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
»Kohlensäure.«
»Kohlen ... säure?«
»Der Sauerstoffgehalt wird immer weniger, der Kohlensäuregehalt steigt und wir kratzen ab.«
»Wir nicht sterben«, sagte Cemir. »Noch nicht.«
Schotterbein stöhnte und fiel in sein Kohlenbett zurück. Er drehte den Kopf in den Nacken und seine Augen flackerten schmerzerfüllt zu Cemir hoch. Er riss seinen Mund zu einem hässlichen Grinsen breit. »Die Piene bringen mich um, freue dich, Kümmel. Ich werd daran krepieren.« Er bäumte sich auf, jaulte wie ein Welpe, sank zurück, hechelte nach Luft und grinste noch immer, was eindeutig gruselig aussah. »Ja, ich krepiere an diesen Schmerzen.«
»Du wirst leben.«
»Scheiß leben mit kaputten Beinen.«
»Du wirst leben und die Sonne sehen. Und vielleicht du wirst irgendwann lachen.«
»Weil du mich versorgt hast, weil du mein Leben gerettet hast?«
»Evet, Steiger.«
»Ich will nicht, dass du mich rettest, Türke.« Bei jedem Wort schnellte sein Schädel vor und zurück. »Ich will das nicht, will das nicht ...« Tränen sprangen aus seinen Augen, Rotze aus seiner Nase. »Will das nicht!« Immer lauter, hysterisch.
Cemir wendete sich ab und wartete eine unendliche Weile, und als der Steiger nicht schwieg, drehte er seine Lampe aus. Das undurchsichtige Schwarz brachte den Tobenden zum Schluchzen, was besser war als die Flüche und das Gekreische.
Oh Allah! Was tust du mir an? fragte sich Cemir. Was sagst du zu dem, was hier geschieht? Wenn jemand einen Menschen tötet, so soll es sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so soll es sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.
»Warum du hast Angst vor mir, Steiger?«, fragte er in die Dunkelheit hinein.
»Halt’s Maul!« Noch immer zitterte Schotterbeins Stimme, aber seine Attacke schien vorüber.
»Warum du hast Angst vor mir?«
Schotterbein stöhnte und spuckte aus.
Cemir schaltete die Helmlampe wieder an. »Du Durst hast?«
»Scheiß drauf ...«
»Du musst trinken.« Er öffnete seine Teeflasche. Schotterbein drehte den Kopf weg. Cemir packte ihn kurzerhand in die Haare, riss das Gesicht zu sich und drückte dem Verletzten ein paar Tropfen zwischen die Lippen. Bei Allah, er selber hatte schrecklichen Durst.
Dann lagen sie schweigend nebeneinander.
»Du wolltest mich töten, stimmt’s?«, fragte Schotterbein unversehens.
»Deine Vorurteile töten dich, Steiger.«
Schotterbein lachte hohl. »Vorurteile sind wichtig, mein Lieber. Du bist ein Stammesfremder. Du bist in meinen Stamm eingebrochen.« Er grunzte, bäumte sich auf, Schweiß spritzte von seiner Stirn, der Schmerz trug ihn davon.
Später, Minuten, Stunden, nach oder vor dem Schlaf, auf jeden Fall waren sie hungrig und durstig, redeten sie übergangslos weiter.
»Darum du hast Angst vor mir. Weil du mich nicht kennst«, sagte Cemir sehr langsam, reihte Wort an Wort, bemüht, ein klares Deutsch zu sprechen, das er in den letzten drei Jahren gelernt hatte. »Ich bin der Fremde, komme in dein Leben und du hast Angst, dass du Kontrolle verlierst. Was du nicht kennst, du nicht verstehst!«
»Scheiß drauf, Türke. Ich wusste gar nicht, dass du so gut Deutsch sprichst.«
»Dann höre zu, höre jetzt zu!« In Cemir brodelte Groll. Seine Nerven lagen blank, er hatte Angst, wollte hier raus, wollte nicht krepieren, schon gar nicht gemeinsam mit diesem Mann, der ihn jahrelang gequält hatte. Er hatte nicht wenig Lust, diesem arroganten Mistkerl in die Schnauze zu hauen.
Geschichte wiederholte sich stets. Immerhin hatte er Geschichte studiert. Die Thematik des Vorurteils war ein Teil seiner Kultur, wie sie ein Teil aller Kulturen war. Die verständliche Angst vor dem Fremden, die Verankerung dieser Regung mit dem Instinkt des Menschen; das alles machte letztendlich alles so kompliziert.
»Vorurteil ist Vernichtung«, sagte Cemir, mühsam seinen Zorn unterdrückend.
Schotterbein schwieg. Seine Augen waren glänzende Kugeln in einem schwarzen Gesicht.
»Keine Vorurteile ist Frieden!«, sagte Cemir.
»Amen! Arschloch!«
»Ich Geschichte studiert habe. Ich das deutsche Vor-Ur-teil kenne. Vor - bevor ich es verstand ... Ur – so war es schon immer ... Teil – der fehlende Blick für das Ganze.«
»Da back mir einer nen Storch. Unser Kümmelmann ist ein ganz Gerissener. Ein Philosoph. Ich glaub, ich hab mehr Fieber als gut ist für mich. Leck mich fett!«
»Vorurteil nicht schlecht ist, sogar gut ist, weil es schützt.
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