Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
noch viel Geld und mehr als sie geplant hatten, aber seit wann gibt es irgendetwas, das die Willes nicht schaffen? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Das Familiencredo. Niemals war es bedeutsamer als jetzt. Lieber noch ein paar Jahre den Gürtel enger schnallen, dafür einen eigenen Garten haben und die ganze Familie unter einem Dach.
Frank ist auf Schicht und weiß noch nichts von ihrem Glück.
Massachusetts klingen die Bee Gees aus der Musiktruhe, ein Lied, das Lotte sehr mag, weil es sie ein bisschen traurig macht, obwohl es englisch gesungen wird.
Das hier ist die Küche, ein Ort, der jahrelang ihr Refugium gewesen ist und es nur noch wenige Monate sein wird, falls alles nach Plan läuft. Das Bild mit der Zigeunerin drüben unter der Schräge, die alte Couch mit der Stehlampe daneben, die Musiktruhe mit den Spitzendeckchen darauf und den Plastikrosen, alles blitzsauber, als habe jemand vor Jahren ein Foto gemacht, als sei die Zeit stillgestanden, die Amaryllis auf der Fensterbank, lebendig wie eh und je, weil Lotte einen grünen Daumen hat, hier der gusseiserne Ofen, den sie nicht mitnehmen werden, weil demnächst mit Strom gekocht wird, der wuchtige Kühlschrank, gefertigt für die Ewigkeit und wie neu, die weißgestrichenen Schränke. Seit neuestem gibt es sogenannte Einbauküchen. Ja, das gefällt Lotte. Dennoch wird sie auf diesen Luxus verzichten, schließlich tun‘s die alten Schränke noch eine Weile. Vielleicht wird sie sich für einen neuen Esstisch entscheiden und neue Stühle mit Plastiksitzfläche, andererseits ... ein bisschen Farbe aufs Holz und die alten werden aussehen wie neu.
Die Küche im Haus wird etwas kleiner sein als jetzt - etwas? Sie wird erheblich kleiner sein - so hatte Lotte es auf den Bauplänen gesehen - also wird man sich vornehmlich im Wohnzimmer aufhalten, einem großen Raum, den man dann auch nicht mehr die gute Stube nennt. Ja, die Wohnkultur ändert sich. Alles wird moderner. Was soll’s?, zuckt sie innerlich die Achseln, Frank freut sich darüber, denn nun hat er genug Platz für seine Bücherregale, und ein Aquarium möchte er sich auch anschaffen. Das wird zwar wieder an ihr, Lotte, hängen bleiben, aber was soll’s?
Jäh unterbricht sie ihre Planung, denn ihr fällt auf, dass sie sich hinreißen lässt. Träume sind Schäume! So sagt man und das stimmt auch. Noch ist nichts endgültig, noch ist der Kaufvertrag nicht unterschrieben, noch ist die Finanzierung von der Sparkasse nicht genehmigt. Noch immer steht die Information der Berliner Rück aus. Sie hatte gleich gestern von einer Telefonzelle aus bei der Gesellschaft angerufen. Man hatte ihr für heute einen Brief und die entsprechenden Unterlagen zugesagt. Der Postbote kommt in einer Stunde.
Und was besonders schön ist, drängen ihre Träume immer wieder den Pessimismus zurück: im Haus wird es ein Telefon geben.
Unvermittelt fühlt sie sich deplatziert, als hätte die Zukunft schon Besitz von der Gegenwart ergriffen. Diese Bude ist ein Schweinestall, zwar ein sauberer, blitzblank geputzter, dennoch ein Schweinestall und hier haben sie lange genug gehaust und in einen Eimer gepisst. Ekel steigt in ihr hoch, wo Kummer sein müsste, Vorfreude, wo Vorsicht herrschen sollte.
Nun wird Lotte etwas ganz Verwegenes tun. Sie macht einen Spaziergang. Einfach so, ohne dass sie einkaufen muss oder ein pragmatischer Grund sie dazu verleitet.
Draußen liegt schwerer Frühjahrsnebel in den Straßen. Das stört Lotte nicht, wofür hat sie ihren Mantel? Selbstvergessen greift sie zur Einkaufstasche. Nein, die benötigt sie nicht. Vielmehr möchte sie sich einfach nur – welch ein Luxus! – bewegen, ihre Gedanken austragen.
Frau Rampf streckt ihren Kopf zur Tür raus und grüßt mit roter Nase, aus der Wohnung dampft es nach Erwin Rampf‘s Stumpen, dann ist Lotte die Treppe runter, leichtfüßig wie ein junges Mädchen, beflügelt von der Hoffnung auf Veränderung.
Sie macht sich auf den Weg, durch einen Nebel, der nach nasser Kohle riecht, eine Farbe, die die umstehenden Gebäude leprös aussehen lässt, einem Nebel, so dicht, dass sie das Gefühl hat, sich in einem geschlossenen Raum aufzuhalten. Das stört sie nicht, denn sie kennt sich blind aus in Bergborn, kennt jedes kleine Geschäft, Brönemeyers Mode und Schreibwaren Ladudda, die Gambrinus-Bude, eine Straße weiter, wo es Nogger-Eis oder Brauner Bär, Mausespeck und Linden Pils gibt, Alis Gemüse, vor dem in zwei Monaten, wenn es Sommer ist, wieder die
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