Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Aber nur gut ist, wenn man sich ein Nachurteil bildet und klug ist und seine Meinung ändern kann. Das ist Selbstkritik und macht klüger.«
»Geh weg aus meinem Stamm, Knoblauchfresser. Geh zurück nach Hause.«
»Vorurteile machen Selbstwertgefühl größer. Das gefährlich ist, Steiger. Weil sie sich selbst bestätigen. Sie sind wie ein Filter auf die ...« Cemir suchte das Wort. »... auf die Wahrnehmung. Sie tragen bei, dass eintritt, was sie voraussagen. Was heißt, dass Menschen, denen man von vornherein nichts oder nur Schlechtes zutraut ...«, Es war schwierig auszudrücken, was er sagen wollte, schwierig in dieser Sprache. »... das diese Menschen kaum das Gegenteil beweisen können. «
Schotterbein bleckte seine Zähne. »Deshalb rettest du mir mein Leben? Um mir das Gegenteil zu beweisen?«
»Deshalb du lehnst Hilfe ab, weil du willst gewinnen diesen verrückten Kampf?«
Schotterbein lachte grausam. »Es gibt immer zwei Seiten, Türke,« Und langte nach der Teeflasche aus der er einen, zwei, drei tiefe Schlucke nahm. »Fühlst du dich wohl als Opfer, Cemir Kümmelmann?«
»Männer wie du wollen Macht, Steiger. Sie regieren mit Furcht, machen Regiment mit Furcht. Machen Angst vor dies und das. Das ist die Spielregel für Politiker. War es immer und wird es immer sein. Machen dem Volk Angst, der Familie, dem ... Stamm. Und haben Macht. Du bist ein Spieler, Steiger. Du spielst mit Vorurteilen. Und damit bekommst du Macht, Steiger.«
»Und du weichst meinen Fragen aus. Also halt deine Schnauze. Ich werd verrückt vor Schmerzen. Ich werd verrückt ... Oh Mann oh Mann …« Er verdrehte die Augen und überließ sich der Welle, die ihn in das Kohlenbett niederdrückte wie eine heiße Faust, überließ sich seiner Qual und weinte und sabberte und dehnte sich, krümmte sich, riss sich an seinem Haar, fuhr sich hilflos mit den Fingern durch das Gesicht und Cemir blickte auf diese gequälte Kreatur und unendliches Mitleid war in ihm.
Ich umarme den Wolf, dachte er. Den Bruder Wolf, der es nur aus Hunger getan hat!
Er war erleichtert, als der Schmerz den Steiger in die Ohnmacht trug, benetzte dessen Lippen mit dem Tee, den der Fiebernde noch übrig gelassen hatte, drehte die Lampe aus und überließ sich Dunkelheit, schwerem Atem und Furcht.
Und Schweigen.
Er betete zu Allah und dachte an Aiche, an seine Familie, an sein Volk und an das Danach, das Paradies, das Cennet.
Dreißig Stunden später, die Atemluft war fast verbraucht, die Verschütteten hatten sich dem großen Schlaf überantwortet, brachen die Retter durch.
Cemir nahm dies wahr wie in einem Traum.
Erst drei Wochen später fuhr er wieder ein.
Er hörte, man habe Schotterbeins Beine retten können, konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, den Steiger im Krankenhaus zu besuchen. Die Gerüchte mehrten sich, man habe Schotterbeins Beine erneut brechen müssen, eines sei nun etwas kürzer als zuvor, man habe ihm einen Fuß amputieren müssen, und so weiter. Niemand wusste etwas Genaues. Frank Wille, den Cemir sehr mochte und an den er sich mit einem guten Gefühl erinnerte, nahm später Steiger Schotterbeins Platz ein.
Seitdem waren sich Cemir und der Steiger nicht wieder begegnet.
Bis auf den heutigen Tag.
Cemir greift sich die Blätter, auf denen er seine Rede skizziert hat. Das Thema ist Deutsch-Türkische-Freundschaft, Toleranz und Brüderlichkeit. Die Bosse der Grubengesellschaft werden es zu goutieren wissen, die Reporter werden hervorheben, dass die Probleme in Sachen Gastarbeiterintegration hausgemacht sind. Alle sie werden auf ihn, Cemir, dessen sie sich für ihre Zwecke bedienen, auf ihn, Cemir, den anständigen, edlen Wilden! den Mustertürken! weisen und Beifall zollen – wir haben es ja immer gesagt, meine Damen und Herren! - wenn ihm, dem türkischen Gastarbeiter, die Tapferkeitsmedaille verliehen wird.
Und eine goldene Uhr der Ruhr-Kohlen-AG obendrein.
Die Tür öffnet sich. Ein Kopf lugt herein. »Man wartet auf Sie, Herr Czülce.«
»Dessekür ederim, Herr Stern!«, sagt Cemir. »Ich bin nervös und um ehrlich zu sein, muss ich Kotzen.«
Der Zeitungsmann betritt das Seitenzimmer und klopft Cemir freundlich auf die Schulter. »Ich wäre auch nervös, wenn ich die Auszeichnung bekäme.«
Cemir lächelt still.
Vom potenziellen Mörder zum Lebensretter. Man hatte fast zwei Jahre mit der Ehrenbekundung gewartet, denn Schotterbein hatte sich ausbedungen, die Medaille persönlich zu überreichen, auf seinen Beinen stehend,
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