Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
darf doch nicht wahr sein!«, flucht eine Männerstimme, die Tom sofort erkennt. Es ist die von Herrn Schönfeld. Puh, Gott sei Dank! Wenn der ihn erwischt, wird es nicht so schlimm werden. Nein, Herr Schönfeld wird ihn nicht anschwärzen. Vielleicht intern bestrafen, aber nicht dem Direktor melden.
»Wie konnte das passieren?«, schimpft Toms Klassenlehrer.
Mit wem spricht er? Warum ist er so erbost? fragt sich Tom, der vor Furcht erwischt zu werden eine Gänsehaut hat.
»Ich kann doch auch nichts dafür.« Eine Mädchenstimme. »Der Arzt hat’s gesagt ...«, wimmert sie.
»Kannst nichts dafür ...?«
Tom wagt nicht, zu atmen. Schweiß läuft über seine Wirbelsäule. Seine Gelenke schmerzen, so verkrampft und spontan hat er sich unter das Regal im Schrank gequetscht. Er ist einen Kopf größer als die meisten Gleichaltrigen. Das kriegt er jetzt zu spüren.
»Himmelarsch«, zischt Herr Schönfeld. »Wenn das rauskommt ...«
»Ich kann’s ja wegmachen lassen.«
Weint das Mädchen? Das hört sich ganz so an, denn sie schnieft und zieht Rotz hoch. Eine Weile sagt keiner was. Herr Schönfeld hört sich so anders an als sonst, gar nicht mehr wie der freundliche Deutschlehrer, sondern wie ein Fremder, vor dem man sich fürchten muss. Und was hat das zu bedeuten, das mit dem wegmachen ? Hat das Mädchen was angestellt? Kriegt sie jetzt Nachsitzen? Oder einen Tadel ins Klassenbuch?
Tom reckt den Kopf vor, späht zwischen dem Ritz der Türflügel raus. Da sind die Schuhe von Herrn Schönfeld, der mit dem Rücken zum Klassenschrank steht, seine dunkelblauen Nietenhosen, Wildlederschuhe, zwischen den Hosenbeinen Ringelsocken und Lackschuhe vom Mädchen, sonst nichts. Wer ist es? Keine Stimme, die Tom kennt, niemand aus seiner Klasse. Herr Schönfeld geht einen Schritt zur Seite. Aha, jetzt kann Tom was erkennen. Sie ist wahrscheinlich eine Primanerin, denn sie hat schon Brüste. Sie ist älter als Ottilie, die zwar auch schon Brüste hat aber nicht so große, also sechzehn oder siebzehn. Rothaarig ist sie und sehr hübsch, sehr schmal, sehr ängstlich. Wie Tom vermutet hat, weint sie, ihre Augen sind dunkel und nass, ihre aufgeschwungene Oberlippe ist feucht von dem, was aus ihrer Nase läuft. Kein schöner Anblick, dennoch hat Tom Mitleid.
Herr Schönfeld ist weg aus Toms Blickfeld, irgendwo rechts am Pult wahrscheinlich oder er macht ein Fenster auf.
Ein Impuls durchzuckt Tom, ein feiner elektrischer Schlag; augenblicklich beschlägt seine Brille und salziger Schweiß läuft ihm in die Augen, die brennen wie der Teufel. Ein Krampf, oh Mann, er kriegt einen Krampf im Oberschenkel! Seit ein paar Wochen tritt das immer wieder auf, meistens nachts und dann wird Tom davon wach, jammert vor Schmerzen und weckt damit Ottilie auf. Nicht jetzt bitte, nicht jetzt! Er will keinen Muskelkrampf kriegen, will nicht von der Schule fliegen, will keinen Ärger. Oh Mann, oh Mann, warum hat er sich nur auf so was eingelassen? Hat Papa nicht immer gepredigt, dass Lügen immer raus kommen? Dass ein schlechtes Gewissen ein eben solches Ruhekissen ist? Alle Sprüche, die Erwachsene zu diesem Thema zu sagen haben. Üb immer Treu und Redlichkeit und so weiter. Tom stöhnt ganz, ganz leise, winselt in sich rein, beißt die Zähne aufeinander, will das rechte Bein gerade machen, will raus, raus, raus aus diesem Schrank und bereut. Nie mehr macht er so was. Lieber will er lernen, stets fleißig sein. Wenn das nur gut geht, wird er sich ändern und den Ansprüchen seiner Eltern genügen, die er belügt und betrügt. Alles, alles wir er anders machen.
»Warte mal«, sagt Herr Schönfeld.
Das Mädchen reißt die Augen auf, keiner sagt was. Ihr Blick wandert zum Schrank, für einen Moment sieht sie Tom direkt an, was nicht sein kann, nicht sein darf, denn der Spalt ist viel zu schmal, wie unzählige mutige Klassenkameraden belegt haben, warum sollte das jetzt anders sein? Das Mädchen nickt, schlägt eine Hand vor den Mund, als ersticke sie einen Schrei, starrt dahin, wo Herr Schönfeld sein muss, wirbelt herum, rennt raus und knallt die Klassenzimmertür hinter sich zu.
In diesem Moment wird es gleißend hell und Tom kippt vornüber, streckt sein Bein, jault vor Schmerzen, rollt sich auf den Rücken und starrt zu Herrn Schönfeld hoch, der riesig hoch über ihm ragt und auf ihn runter sieht wie ein Bär, der einen zuckenden Lachs fressen will.
Drei Minuten später steht Tom mit hängenden Schultern, das Kinn auf der Brust vor seinem
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