Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
oder andere Hinweise angebracht sind. Neonlicht flackert, taucht alles in ein speckiges Licht. Tom hat das Gefühl, als lausche er längst vergangenen Stimmen, die sich noch immer ätherisch winselnd in diesen Katakomben der Beflissenheit verirrt haben, übertönt von hallenden Befehlen, vom Prügeln der Rohrstöcke auf Hosenböden, vom Klatschen der Lineale, die auf Schülerhände niedersausen.
Links und rechts wendeln sich Treppen hoch, zum nächsten Stockwerk, wo die Primaner Unterricht haben.
Ganz hinten ist das Zimmerchen mit dem großen Fenster. Dahinter kauert der Hausmeister, den sie Igor nennen, weil er gebeugt geht und einen grauen Kittel anhat und deshalb sehr gut in diese Schule passt. Außerdem hat Igor im Krieg einen Schaden bekommen, denn er sabbert, wenn er sich über freche Schüler aufregt, die hinter ihm her lachen. Tom muss sich vorsehen, damit Igor ihn nicht erwischt. Dann kriegt er Schwierigkeiten, denn er darf hier nur sein, wenn es der Stundenplan erlaubt.
Es ist kurz nach acht Uhr. Toms Unterricht beginnt entgegen seinem Stundenplan, wie er am Freitag erfahren hat, heute erst nach der großen Pause um zehn Uhr. Der ideale Tag, um die letzte Mathearbeit zu fälschen.
Die ganze Bude ist abbruchreif, ein Steinklotz, der schon dreihundert Jahre auf dem Buckel hat und drinnen genauso schimmelig stinkt, ganz wie zu Hause der Keller. Rechter Hand gibt es ein Bild, das eine Schüssel mit reifen Apfelsinen darstellt, von irgendeinem Sextaner [4] mit Wasserfarben gemalt. Dieses Bild erfüllt Tom allmorgendlich mit Grauen. Am liebsten möchte er sich davor wegducken, nicht mehr hinschauen. Es ist so, so ... adrett, so aufgeräumt, so stillebig ordentlich. Aalglatt. Seht her! - scheint das Bild zu sagen – es gibt doch noch Kinder, auf die man stolz sein kann, kleine Künstler, die dem Schöngeist dienen. So denkt Tom darüber und das ist sein rebellisches Geheimnis, von dem nicht mal Ottilie was weiß. Könnte er zaubern, würde er die Apfelsinen zum Platzen bringen.
Platsch!
Auf dem Saft würde Oberstudienrat Mencke ausrutschen, sich ein paar blaue Flecken holen und seinen feinen Zwirn versauen. Alle Lehrer auf dieser Schule – abgesehen von Herrn Schönfeld – tragen dunkle Anzüge und korrekt gebundene Krawatten. Dadurch wirken sie dominant wie Ausbilder beim Militär. Papa hat mal gesagt, dass dieser Vergleich gar nicht so weit hergeholt ist, da wahrscheinlich noch viele Übriggebliebene dabei sind, womit er alte Nazis meinte.
Mencke macht den Musikunterricht und Mathe. Einmal, erinnert sich Tom, holte der grauhaarige Mann die Schüler der Sexta B auf die Bühne der Aula, um deren musikalisches Gehör zu testen. Mencke schlug einen Ton auf dem Flügel an und die Schüler sangen irgendetwas, das sich ähnlich anhören sollte. Es erklang wie Katzenjammern. Als Tom dran war, schlug Mencke nicht nur einen Ton an, sondern viele davon und jeden davon sang Tom perfekt nach, einen wie den anderen. Der Oberstudienrat kriegte sich nicht mehr ein, versuchte alle möglichen Schrägheiten, Nuance für Nuance, Sus, sis, dis und so weiter, aber Tom folgte den Melodien wie einem Vogel mit Blicken.
Drei Jahre später wird Tom erkennen, dass er über ein so genanntes perfektes Gehör verfügt, also eigentlich der geborene Musiker ist.
Mit brüchiger Stimme wies der Mencke den Zehnjährigen von der Bühne und notierte etwas ins Klassenbuch. Tom weiß, wie man den Klassenschrank auch ohne Schlüssel aufkriegt, also untersuchte er das Klassenbuch. Ausreichend!, steht da. AUSREICHEND!
Tom verabscheut Oberstudienrat Mencke.
Studienrat Jahn wäre auch kein schlechtes Opfer. Dieser hagere Mann, der nur aus Muskeln und Sehnen besteht, sorgt in jeder Sportstunde zuverlässig dafür, dass Tom als Letzter in eine Spielgruppe gewählt wird, oder schüttet seinen beißenden Spott über den uuuunsportlichen Wille aus, wenn diesmal wieder rittlings auf einem Bock zu sitzen kommt, anstatt darüber hinweg zu springen oder das Tau nicht hochkommt, an dem er bis unter die Decke der Turnhalle klettern soll. So was Sinnloses!
Tom verabscheut Studienrat Jahn.
Oder Frau Brotkorb – ja, die heißt wirklich so! – die den Erdkunde- und Lateinunterricht leitet. Ora et labora! Vokabeln pauken, linke Spalte zuhalten, rechts auswendig lernen, schön der Reihe nach, durcheinander abfragen geht nicht. Nein, Tom verabscheut Frau Brotkorb nicht, aber den Unterricht findet er stinklangweilig, überdies würde die Brotkorb sich
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