Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
dieser vorläufigen Bilanz vermelden. Man muss nur wollen!
Die Insignien des Erfolges am makellosen Weiß seines Hemdes fesseln seine Aufmerksamkeit mit der Kraft von Götterboten und verknüpfen seine Assoziationen, die pfeilschnell, fast zwangsläufig nach Bergborn führen:
Warum, Schwager Frank, du Versager, warum bietest du meiner Schwester kein angemessenes Leben? Warum nutzt du deine intellektuellen Fähigkeiten nicht für Geldbeutel und Familienfrieden, anstatt dir den Hintern unter Tage abzuarbeiten?
Jetzt wohnt deine Tochter bei uns. Wurde ja auch Zeit, dass Ottilie aus diesem Zimmer, das sie sich mit Thomas teilte, rauskam. Seit einem Jahr absolviert sie bei Gina eine Lehre als Verkäuferin, hat bei uns ein eigenes Zimmer, und ist gediehen wie ein Frühlingsblümchen – ganz ohne blutige Arme, abgesehen von dieser Sache vor zwei Monaten, als sie übers Wochenende nach Bergborn kam und ein paar Tage späŠter prompt wieder anfing, an sich herumzuschnitzen. So viel zum Pinkelpott, mein lieber Frank, soviel zu einem Kinderzimmer, in dem im Winter Eisblumen am Dachfenster blühen und die gefrorenen Wasserzapfen vom Fensterrahmen hängen, ein Kinderzimmer, in dem Lotte die Betten mit einer Flasche vorwärmen muss, damit man darin schlafen kann, wie Ottilie erzählt hat. Das kann für ein sensibles Mädchen doch nicht gut sein, oder? Otto schnauft unduldsam und wäscht sich die Hände.
Es gibt viel zu tun. Sogar in diesem Weltmeisterschafts-Fußballjuli 1966 gönnt er sich keine Ruhe, was gar nicht so selbstverständlich ist, denn die Versuchungen lauern überall.
Pause machen? Freie Tage? Im Schwimmbad liegen und abends in der Kneipe Fußball gucken? Um Himmels willen ...
Da quält er sich lieber nach einem Arbeitstag zuhause vor dem Fernseher mit den Seelers und Emmerichs herum, verfolgt zugeknöpft und verständnislos, wie zwanzig erwachsene Männer einem Ball hinterher hasten, und speichert geduldig alle Informationen, die er in seinem nächsten Beratungsgespräch nutzen kann. So hat er sich in wenigen Wochen ein immenses Fußballwissen angeeignet, weiß alles üŸber ‚uns Uwe‘ und über Helmut Haller, über diesen schwarzlockigen Franz Beckenbauer aus Bayern und wie sie sonst noch alle heißen. Deutschland hatte um Haaresbreite die Qualifikation nicht geschafft, aber dann kam der Erfolg, der gestern in einem 2:1 Sieg über die Iwans gipfelte. Man servierte diese Russkies ab wie nix! Zackbumm!
Fußballwissen ist Ottos Geschäft, denn im ganzen Land wird über nichts anderes diskutiert als über Helmut Schöns Mannschaftsaufstellung und darüber, wie man am nächsten Samstag im Wimbley-Stadion gegen die Engländer Weltmeister werden kann.
Ist der Hosenstall zu?
Alles klar!
Otto zieht die Toilettentür hinter sich zu und betritt den Konferenzraum. Er nimmt am großen Tisch Platz. Ein paar Augen schauen zu ihm hin, ganz flüchtig nur, denn vor Kopf des Tisches doziert der Landesdirektor der Berliner Rück – fett wie eine Kröte im Maßanzug - über ein neues Produkt, mit dem man in Zukunft noch bessere Geschäfte machen kann und über die erhöhten Provisionen, die fleißigen Mitarbeitern gezahlt werden.
Einer von denen ist Otto Jäckel.
In diesem Jahr nimmt er Platz 5 auf der sogenannten Rennliste ein. Platz 5 von einhundertsiebenundfünfzig Verkäufern bundesweit. Das kann sich sehen lassen. Vor zwei Jahren war er als blutiger Anfänger bei dieser Versicherungsgesellschaft gestartet, heute ist er eine große Nummer, ein Mann, den man hofiert, auf den man nicht gerne verzichtet. Die fünfzehn Männer der Berliner Geschäftsstelle schwitzen in ihren Anzügen und Dralonhemden, sodass der ganze Raum stinkt wie ein Ziegenstall.
Die Ermahnungen des Landesdirektors, die Motivationen und Visionen gelten nicht Otto, sondern jenen Faulpelzen, die weder bei 30 Grad im Schatten mit dem Aktenkoffer durch die Straßen ziehen, an unbekannten Haustüren schellen, mit wildfremden Menschen sprechen, noch diese vom Sinn einer Zukunftsabsicherung überzeugen wollen. Denen Fußball und Sommerfaulheit vor allem geht.
Jeder dieser Außendienstler weiß, dass ihr Otto Jäckel, der Beste der Berliner Geschäftsstelle, dass neue Produkt aufgreifen, es verkaufen – nein, nicht verkaufen ... unterbreiten ! - und damit beispiellos erfolgreich sein wird.
»Wie würden Sie das machen, Herr Jäckel?«
Der Ruf des Landesdirektors ereilt Otto, da er sich noch in Träumen suhlt; umso erschrockener fährt er auf.
»Sie
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