Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
sie was getrunken haben - über Bomben und über Iwans und über Hunger oder über Gefangenschaft, als wenn die Zeit stehen geblieben wäre. Das will ich doch gar nicht wissen! Außerdem sind diese Erinnerungen alle gleich und sie sind alle schlimm und langweilig ebenfalls, weil sie erzählt werden, als würde man einen Einkaufszettel vorlesen, so teilnahmslos, manchmal sogar, als hätte es ihnen Spaß gemacht, wenn um sie herum geballert und gebombt wurde oder die endlosen Geschichten von der Flucht und dem Hunger, und ganz schlimm ist, wenn sie dann sagen, es sei doch eine schöne Zeit gewesen und es war auch ordentlich was los, und wenn sie sich toll dabei vorkommen, sich gegenseitig mit seltsamen Ereignissen zu übertrumpfen, zum Beispiel, wenn sie von Leuten erzählen, die auf der Stelle weiße Haare gekriegt haben oder von Fotos, die von alleine, einfach so, ratsch!, zerrissen sind und den Tod eines Liebsten, weit entfernt im Krieg, angekündigt haben! Und wir haben uns durchgeboxt, sagen sie dann, haben nicht aufgegeben, waren immer so gut gelaunt. Haha! Warum, fragt sich Tom, beklagen sie sich dann, wenn’s doch so toll war? Oder Oma Käthe, die Tom manchmal erschreckt, wenn sie sich unbeobachtet wähnt und das Lied vom Maikäfer vor sich hinsingt, Maikäfer flieg, der Papa ist im Krieg, die Mama ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg! Als wär’s was ganz Lustiges.
Frau Marek macht eine fahrige Bewegung über ihre Augen, als wische sie staubige Tränen weg. »Mein Sohn verließ mich ebenso wie mein Ehemann, sagte, er könne nicht mit anschauen, wie ich mich umbringe, war zornig, tobte wie ein Wahnsinniger und beschimpfte mich, nannte mich verantwortungslos, eine Rabenmutter, eine Süchtige – er ließ seine Mama im Stich, der Narr, als wenn sich davon etwas ändern würde.«
Warum, fragt sich Tom, warum verdirbt Frau Marek mir mit dieser entsetzlichen Geschichte diesen schönen Sommertag, den Endspieltag außerdem. Rächt sie sich an mir, weil ich die Zigaretten vergessen habe?
»Und nun fragst du dich, warum ich dir das alles erzählt habe, nicht wahr?«
Oh Manno! Das ist wirklich gruselig! Sie ahnt sogar meine Gedanken, sie hat ganz bestimmt mitgekriegt, was ich mich gefragt habe.
Am liebsten würde Tom einfach so aufstehen und gehen, ganz mutig sein und nie mehr wiederkommen, aber irgendetwas in Frau Mareks Augen hält ihn fest, und aus heiterem Himmel kriegt er Mitleid mit ihr, was ihm warme Beine macht und seine Gänsehaut verschwindet und er sieht, dass sie sehr, sehr traurig ist.
Ihr Gesicht ist ganz weich geworden, wie bei einem Mädchen, und, als sie ihren Blick senkt, sehen ihre Wimpern viel länger aus als sonst, an ihrem schmalen Hals pocht eine winzige Ader und ihre Finger liegen ganz ruhig auf der Lehne des Rollstuhles. Sie flüstert so leise, dass Tom sie kaum versteht. Unwillkürlich beugt er sich etwas vor, kommt ihr dadurch näher als er eigentlich will und ihr Geruch schlägt ihm ins Gesicht: Seife, Nikotin, 4711, etwas, das Tom für Alter hält und saurer Atem.
»Ich werde dir nicht verraten, warum ich dir das erzählt habe, lieber Thomas. Du wirst alleine darauf kommen. Und nun gehe und besorge, was du vergessen hast.«
Und dies tut Tom und er ist froh, als er endlich draußen im Sonnenlicht steht, durchatmet, erwacht, sich wieder lebendig fühlen darf, weil so ein Sommertag etwas Wunderschönes ist.
Später, auf dem Weg nach Hause, währenddessen seine Finger mit dem in der Hosentasche vergessenen Geldschein spielen, wird er das Gefühl nicht los, etwas gelernt zu haben, etwas, das ihn ein Leben lang begleiten wird.
Dass er niemals rauchen wird! Niemals! Das nimmt er sich fest vor. Das ist das eine.
Dass sich hinter jedem Menschen eine Geschichte verbirgt! Und das sich zuhören und Aufmerksamkeit lohnen kann, weil es Vorurteile auflöst und einem die Regeln des Mitgefühls lehrt. Das ist das andere.
Wenn Tom sich in späteren Jahren an Frau Marek erinnert, sieht er eine Frau mit schlanken langen Beinen, hohlwangig, mit ungewaschenen weißen Haaren, hungrigen Augen im hageren Schädel, eine Zigarette im Mundwinkel, zwischen brüchigen Häuserfluchten auf dem nassen Kopfsteinpflaster hocken, die ihren kleinen Jungen liebevoll an die Brust drückt, währenddessen um sie herum Bombenhagel herrscht.
Und er erinnert sich daran, wie er an diesem Junitag 1966 lernte, dass alles eine Frage der Entscheidung ist. Dass man mit der Konsequenz leben muss, wenn
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