Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
und so geht es noch eine Weile weiter, zwanzig Minuten oder mehr, Tom verliert jedes Zeitgefühl und am liebsten würde er stundenlang zuhören, diesen Liedern und Melodien, die genauso sind, wie er, Thomas Wille, gerne sein möchte - aufregend, herausfordernd, forsch, tonangebend, sensibel und aufgeweckt.
Abrupt schaltet Herr Schönfeld das Kassettengerät aus.
Die plötzlich einsetzende Stille schmerzt. Tom erwacht wie aus einem Traum.
»Und?«, fragt Herr Schönfeld.
Diese Gitarrentöne, dieses, dieses ... fehlen Tom die Worte? Nein ... dieses Gewitter! Ja ... das hat ihm gefallen, hat ihn begeistert, hat ihn in Verzückung versetzt.
»Als Erstes hast du Jimmy Hendrix gehört, ein fast noch unbekannter Musiker. Ich habe noch nie jemanden so Gitarre spielen hören!« Herrn Schönfelds Augen leuchten, sein Gesicht glüht. »Danach waren John Mayall’s Bluesbrakers dran. All Your Love, heißt das Stück. Merke dir den Namen des Gitarristen. Er heißt Clapton, Eric Clapton. Der ist schon seit drei Jahren ziemlich up to date. War vorher bei den Yardbirds. Wenn du ein guter Gitarrist werden willst, musst du das wissen. Die seltsamen Sounds danach kamen von einer ganz neuen Band, die sich Pink Floyd nennen, von ihrer ersten Platte, die vor ein paar Tagen erschienen ist, eine ziemlich verträumte Band, von deren Sänger Syd Barrett man sagt, er sei ein Irrer, später hast du eine deutsche Sängerin gehört, sie heißt Inga Rumpf.« Er macht eine Pause und mustert Tom eindringlich. »Toll, nicht wahr?«
»Wie nennt man diese Musik? Beat?«
»Nein, Rock! Und Blues, je nachdem ... ich erkläre dir den Unterschied später. So etwas hörst du nicht im Radio. Das muss man sich auf Platten kaufen. Damit erhältst du dir Individualität. Das, was du im Radio hörst, ist für die Masse, für ...«, Er schüttelt sich angewidert. »Für alle! Sei originell, hebe dich aus der Masse hervor, sei genau so ursprünglich wie diese Musik! Denn für dich ist sie gemacht.« Herr Schönfeld steckt die Tonbandkassette in eine Plastikschachtel.
»Später, wenn du Geld verdienst, wirst du wissen, wie toll es ist, wenn du eine Schallplatte gekauft hast, wenn du sie stolz nach Hause trägst, wenn du sie aus der Hülle nimmst, die schwarzen Rillen anguckst, ob auch keine Kratzer drauf sind, denn du musst sie pfleglich behandeln, wenn du sie auf den Plattenteller legst, und dann ... dann geht es los und du studierst die Plattenhülle und liest die Texte mit und wer was in der Gruppe spielt und ein Kosmos öffnet sich dir, der unglaublich ist.« Herrn Schönfelds Augen strahlen wie Diamanten und Tom sieht ihn zum ersten Mal in diesem Licht, diese Begeisterung, die ihn so jung wirken lässt. Ist dies tatsächlich sein Klassenlehrer, bei dem er Montag wieder Deutschunterricht hat, der ihn zudem im Schrank erwischte und dem er deshalb nichts abschlagen kann, auch wenn er es will, wenn er so sehr will?
Wenn er sich beeilt, ist er bis heute Mittag von Frau Marek zurück. Danach wollen sie alle in die Ampel, um dort gemeinsam mit Nachbarn und Freunden das Endspiel zu sehen. Oma Käthe wird aus Berlin kommen und auch Onkel Otto und Tante Gina haben sich angemeldet. Onkel Piefke hat was anderes vor. Schade! Und wie Tom mitgekriegt hat, will Onkel Otto sich vor dem Endspiel noch eingehend mit Vater und Mama unterhalten. Ob das was mit Ottilie zu tun hat, weiß er nicht.
Also wird es höchste Zeit sich zu beeilen.
»Hier ist noch etwas Geld extra. Zehn Mark. Sie wird es nicht annehmen wollen, also lass’ es einfach auf ihrem Tisch liegen, wenn du gehst. Willst du das tun?«
»Ja.« Hat er eine Chance? Oh Manno! Schnell, schnell im Konsum einkaufen. Hurtig zur Alten und ab nach Hause. Die Familie wird gemeinsam Fußball gucken, was immer ganz toll ist und mit guter Stimmung verbunden.
Nun steht er mit zwei vollen Taschen vor Frau Marek.
Und er hat die Zigaretten vergessen!
Frau Marek sieht aus, als würde sie jeden Moment aus ihrem Rollstuhl springen, auf geheimnisvolle Art dazu befähigt. Sie macht ein böses Gesicht, ihre Hände trommeln auf die Lehnen, ein knorriger gelber Zeigefinger schießt vor und fuchtelt herum, wobei ihre weißen Haare im Dämmerlicht leuchten wie der Schopf einer Mumifizierten. »Das, mein Junge, das ...«, Ihre Stimme schreitet stufenweise höher, »... das, mein Junge, hast du extra gemacht.« Wobei sich das extra anhört wie eeeeextra!
»Ich hab’s vergessen«, murmelt Tom und er ist entsetzt, wie hässlich Frau
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