Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
so unwirklich anmutet. »Er hat an meinem Bett gesessen, nachdem man mir das erste Bein amputiert hatte.«
Herr Schönfeld hatte angeordnet, Tom solle sich sofort nach dem Einkauf davon machen, er solle keine Gespräche suchen, er solle ausschließlich als Bote fungieren. Und nun kauert er hier auf der Sitzkante, ungehorsam, und hat Frau Marek, diesem bizarren Geschöpf, einem absurden Impuls folgend, einen nicht minder absurden Vorschlag unterbreitet.
»Die Ärzte waren sich einig ich hätte Raucherbeine, meine Adern oder Venen oder was auch immer, mein Lebensstrom sei verstopft wie alte Abflussrohre. Irgendwann würden auch die Rohre zu meinem Herzen von Nikotin verklebt sein und dann sei es zu spät.«
Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Welcher Teufel hat mich geritten?, fragt sich Tom. Warum biete ich ihr nicht außerdem an, das blöde Bild da mit den beiden Wandermännern drauf und daneben das mit den Bergen und dem Sonnenaufgang – oder dem Sonnenuntergang? Ist egal! – die Bilder gerade zu hängen, die Türrahmen zu streichen, den Fußboden zu wischen, die Speichen ihres Rollstuhls zu polieren, womöglich noch ihre Fußnägel zu schneiden, iggittegitt! Hexenfußnägel!
Frau Marek hat die Augen halb geschlossen und sieht aus, als rede sie mit sich selber, was sie – vermutet Tom - in gewisser Weise wohl auch tut. »Er saß an meinem Bett und er hat mein Haar gestreichelt und gebettelt ich solle nie wieder rauchen. Du musst wissen, dass mich mein zweiter Mann verlassen hatte, weil der nicht mehr ertragen konnte, wie ich meine Gesundheit ruiniere. Also nahm ich wieder meinen eigenen Namen an. Schönfeld wollte ich nicht mehr heißen. Nicht so, wie dieser Arsch, der mich alleine gelassen hatte. Mein Sohn, der seinen Namen behielt, rang mir ein Versprechen ab und ich gab es ihm: Nie wieder eine Zigarette!«
»Dann ist Herr Schönfeld Ihr Sohn?« Das fand Tom komisch. Zwei unterschiedliche Namen. Also konnte man nach einer Scheidung seinen alten Namen wieder annehmen? Das war ihm neu. Warum hatte Schönfeld ihm nichts davon gesagt? Na egal – er würde nicht darüber reden. Nee, auf keinen Fall.
Frau Marek hustet, schüttelt sich und ihr Mittelfinger tupft durch den Aschenbecher, malt kleine Pünktchen und wischt Straßen in die Asche, auf der Suche nach einer Kippe. Sie beantwortete Toms Frage nicht, als fände sie, zu diesem Thema genug gesagt zu haben. »Im Krieg haben wir nie etwas anderes gehabt als Stummel, die andere weggeworfen haben; es gab Spezialisten, die konnten aus ein paar Tabakkrümeln prächtige Zigaretten drehen.«Ç
Wie kann man nur so bescheuert sein?, fragt sich Tom. Man braucht doch einfach nur mit dem Qualmen aufzuhören. Wer sich seine Beine wegraucht, ist doch nicht mehr ganz richtig im Kopf, ist sozusagen – ein Scheusal. Nein, da will ich jetzt lieber abhauen und das Klo putze ich auch nicht und außerdem ist jetzt Schluss mit dieser Angelegenheit, das sage ich Herrn Schönfeld, ob’s ihm passt oder nicht!
»Nachdem man mir das zweite Bein abgenommen hatte, saß mein Sohn erneut an meinem Bett und er weinte und ich weinte auch. Ich gab ihm das Versprechen, nun sei wirklich Schluss mit den Zigaretten. Was hätte ich tun sollen? Er war so traurig, mein kleiner Junge, dieser Narr, war so traurig, war so verzweifelt.«
Tom starrt vor sich hin und will nicht glauben, dass es so etwas geben kann. Wenn er das jemandem erzählt, wird man ihn auslachen und ihn der Lüge bezichtigen. Und doch ist er nicht der kleine Pip aus einem Roman von Dickens, kein Protagonist Poe‘scher Fantasie - das hier ist genauso real wie die traurigen Augen von Frau Marek, was wieder einmal beweist, dass Vater recht hat, wenn er behauptet, das Leben schreibe die seltsamsten Geschichten.
»Wie du dir denken kannst, hörte ich nicht auf ihn«, fährt Frau Marek in ihrem Monolog fort. Ihre Stimme hat einen leiernden Tonfall angenommen. »Nichts unterdrückt den Hunger besser als Nikotin, nichts lässt die Drangsal besser vergessen, nichts wärmt so sehr von innen, nichts beruhigt die Nerven so perfekt! Im Krieg war das sehr hilfreich. Es war meine Krücke und die Rettung für meinen Sohn, denn nur so konnte ich hungern, für meinen Sohn hungern und nur so wurde ich nicht verrückt, als wir ausgebombt wurden.«
Immer diese Kriegsgeschichten, denkt Tom. Egal, ob Vadda Ronsmann oder der alte Rampf oder wer auch immer, abgesehen von Mama und Vater quatschen sie alle dauernd - vor allen Dingen, wenn
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