Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
eklatanter Baumängel abgerissen worden war.
Die gegenwärtig herrschende Stille in diesem entseelten Asyl lässt seinen letzten Brief an Aysel besonders vollendet werden. Nahezu so wie der Schriftsteller Nazim Hikmet wählt Cemir seine Worte sehr sorgsam, gezügelt, fast spartanisch.
Was er seiner Frau erklären will, bedarf präziser Worte. Es dürfen keine Missverständnisse bestehen bleiben. Aysel würde es ihm sonst nie vergeben! Und sie wird ihm viel zu vergeben haben, sehr viel.
Während er schreibt, erinnert er sich an die Welt seiner Kindheit, die von unbeschreiblichem Reichtum war. Die Natur, ihre Farben, ihre Gerüche machten den kleinen Cemir manchmal fast verrückt, brachten ihn in eine Art Ekstase. Dann sang er aus vollem Hals. Er verführte die Kinder des Dorfes zu tausend Abenteuern: Melonen in Nachbardörfern klauen, Vögel jagen, in den Bergen Beeren und Pilze pflücken, den Leuten einen Bären aufbinden und die unglaublichsten Streiche spielen. Die Kinder folgten ihm überallhin, wie gebannt, gehorchten ihm bei jeder Gelegenheit. Ja, schon damals verfügte er über eine naturgegebene Autorität.
Meistens unterschied man nicht zwischen Kindern und der Welt der Erwachsenen. Die Kinder arbeiteten mit den Erwachsenen auf den Feldern, auch konnten sie bis zum frühen Morgen aufbleiben, um den großen Erzählern zuzuhören. Keinem wäre es in den Sinn gekommen zu sagen: »Das sind Kinder, sie können diese Geschichten nicht verstehen.« Die Gesänge, die Erzählungen, die Legenden waren für alle dieselben. Im Königreich von Cemirs Kindheit gab es keine geschlossenen Türen.
Er erinnert sich an Großmutter Jamila, ohne die sein Leben anders verlaufen wäre, an den alten Muchmat, der Jamilas Kladde gefunden hatte, an Onkel Murat, der eine Zeit lang für Cemirs Unterkunft gesorgt hatte und selbstverständlich an seinen Vater Kemal Cülcze, seine drei Schwestern und an Mama Aiche.
Cemir blickt tränenverhangen den Schwaden der Nargile hinterher, schmeckt den Tabak auf der Zunge und die Vereinsamung im Herzen.
Da gibt es dieses schöne Gedicht aus seiner Heimat, einige wenige Zeilen über das Leben.
Leben wie ein Baum
einzeln und frei
und brüderlich
wie ein Wald
das ist
unsere Sehnsucht
Cemir lauscht in sich hinein, horcht dem Strom nach, der sich sehnsuchtsvoll durch sein Bett schlängelt, nomadisch wie Gewässer sind, mannigfarbige Fragmente im Sonnenschein irisierender Erinnerungen.
Er seufzt seine Sentimentalität davon. Rührseligkeit führt zu nichts. Sein Herz schlägt schneller, sein Oberarm schmerzt bestialisch, wie immer, wenn Cemir innerlich bewegt ist und in seinem Schädel hämmert es wie jedes Mal, wenn die Demütigungen, die der Steiger an ihm vollzieht oder die Erinnerungen daran seine Seele zu verbrennen drohen. Das müssen die Empfindungen einer Eselin sein, die von einem schwärigen Burschen geschändet wird oder die einer Frau, deren Mann ein Schläger ist. Sie alle haben keine Hilfe, sind abgetrennt und isoliert.
Hin und wieder ertappt Cemir sich beim Hadern. Warum ausgerechnet ich? Was habe ich diesem deutschen Mann angetan? Reicht es aus, ein Fremdländer zu sein?
Und er erinnert sich der Worte aus dem Koran: »Zwei Menschen in einem Dorf starben. Einer verehrte Allah, der andere nicht. Der Imam des Dorfes sah den Frommen in der Hölle und den Ungerechten mit Wein und Jungfrauen im Paradies. Als sich der Fromme über die offensichtliche Ungerechtigkeit beklagte, erwiderte Allah: »Sei still, habe ich nicht das Recht, mit meinem Eigentum so umzugehen, wie es mir passt?«
Vor allen Dingen die Kopfschmerzen sind es, die Cemir seit Monaten den Schlaf rauben, den Appetit, die Freude am Leben. Der Betriebsarzt hat Cemir mit Aspirin zu helfen versucht, aber die Schmerzen gehen tiefer, viel tiefer, als ein läppisches Medikament wirkt. Einmal, es ist noch keine drei Wochen her, war ihm schwarz vor den Augen geworden, unter seinen Füßen bäumte sich der Boden auf, sein Körper war innerhalb von Sekunden in Schweiß gebadet und seine Muskeln entbehrten jegliche Kraft. Träume jagen Cemir Nacht für Nacht durch alle Vorhöfe der Düsternis und haben ihm schließlich den Weg gewiesen, den er nun gehen wird.
Bedächtig öffnet er die Lederschatulle und hebt den Dolch in seine Handfläche. Die Klinge funkelt makellos, die Schneide ist leicht gekrümmt. Dies ist kein billiges Schnappmesser oder Ähnliches, sondern eine rituelle Waffe, mit einem Elfenbeingriff, perfekt
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