Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
ausgewogen, die haarscharfe Verlängerung seines Handgelenkes.
Die letzten Monate waren die Hölle gewesen. Seinen Schmerzen im Arm, im Schädel, zu denen sich Muskelschmerzen gesellt hatten - der Betriebsarzt, oder besser dessen Dolmetscher, meinte, es könne sich um Rheuma handeln oder sonst etwas mit den Nerven - sowie einem heftigen Husten in den Bronchien zum Trotz, hatte Cemir mit einem Trupp Deutscher und Portugiesen vor Kohle gelegen, hatte dem Berg das schwarze Gold und monatlich fast neunhundert Mark abgetrotzt, unermüdlich, damit Aysel und seine Mutter jeden Monat ausreichend davon bekommen konnten.
Nun wird dies ein Ende haben.
Die Nargile wird kalt und Cemir packt den Tabak zu seinen Utensilien. Er wäscht sich das Gesicht, reinigt seine Hände, streicht seine Kleidung glatt. Der Dolch steckt im Innenfutter seiner Cordjacke.
Heute hat er Nachtschicht.
In wenigen Stunden wird er einfahren. Bis dahin wird er spazieren gehen, drüben im Park bei der alten Salinenanlage wird er seine Sinnesempfindungen reinigen, auf einer Bank sitzen, wird er Gebete sprechen, Allah um Verständnis bitten und dieses Verständnis erhalten.
Später, im Flöz, wird er den Steiger, wird er Schotterbein töten!
Es wird den Schinder ereilen wie ein Blitzstrahl. Cemir beschließt, den Mann nicht leiden zu lassen. Deshalb wählt er den rituellen Dolch, nicht die Dinge der Arbeitswelt, wie Hacke, die Schaufel oder Strom.
Hier geht es frei von Hass um seine Ehre, die er reinwaschen muss und um die Befreiung des Getiers, welches an seiner Seele frisst wie ein begehrliches Monster, wie der Adler, der sich täglich an der Leber des Prometheus labte.
Was danach geschieht, weiß alleine Allah!
Cemir verlässt das Haus. Ebenso gut könnte die Welt ausgestorben sein. Keine Menschseele ist hier draußen. Ganz Deutschland wartet darauf, Weltmeister zu werden.
Er beugt den Kopf gegen die Stille und schreitet weit hinein in die Einöde seiner Traurigkeit.
14
Wenna dreht sich am Nussautomat eine Handvoll kandierter Nüsse, die in einen Bierdeckel kullern, dessen Rundungen zum Quadrat geknickt sind. Klockerdiklock ! Zehn Pfennige, eine Drehung. Wegzehrung für die zweite Spielhälfte. Nur noch fünfundvierzig Minuten. Danach muss alles klar sein. Das erwartet man von der deutschen Mannschaft.
Gut, das jetzt Halbzeitpause ist. Der Schön wird seinen Kämpen hoffentlich so richtig den Marsch geigen
Gut gemeinte Ratschläge, wohin man hört.
Geplapper, aufgedrehte Hinweise, jedermann ist Bundestrainer.
Frida und Päule zapfen sich nen Ast.
Frank, Otto und Lotte genehmigen sich eine Ochsenschwanzsuppe. Das tut gut und gibt Kraft. Oskar raucht und guckt zu. Thomas kommt rein, schlaksig wie eine dünnholzige Marionette. »Wie steht’s?«
»Wo warst du, Thomas?«
»Habe die Zeit verpennt, Mama!«
»War bestimmt bei ner Kaline, der Belami!«, fällt Oskar ein und kneift Tom ein Auge zu.
»Frida, bring uns eine Ochsenschwanz für den Jungen, mit ordentlich Fleisch drin!«
»Wird gemacht, Lotte. Dauert fünf Minuten!«
»Hallo, Thomas ... du siehst ja ganz bedrückt aus ...? Hast doch keinen Grund dazu. Man munkelt, dass du veröffentlicht wirst?«
»Ja, Onkel Otto ... schon nächste Woche.«
»Alle Achtung. Ein Schriftsteller in der Familie.« Das gefällt Otto Jäckel. Das sieht man ihm an.
»Wo sind Tante Gina und Lile?«
»Müssen jeden Moment eintreffen. Hoffe ich jedenfalls, sonst verpassen sie die zweite Halbzeit. Na ja – Gina mag Fußball sowieso nicht besonders ...«
»Lile auch nicht«. Eigentlich hat Tom keinen Hunger. Die Geschichte von Frau Marek steckt ihm noch immer in den Gliedern.
Oh Manno! Alles in seinem Kopf ist so durcheinander. Und dazu dieser Lärm hier und das Stimmengewirr und der Tabakrauch.
Frida stellt die Suppe vor Tom ab. »Lasses dich ma schmecken, Langer!«
»Danke, Frida!«
Man kennt sich. Schon als ganz kleines Kind hat er Vater in die Ampel begleitet. Dann hatten die Gäste sich über den winzigen Naseweis amüsiert, wenn der für seinen Papa bestellte: »Ein Pier, ein Naps!«
»Frank.« Lottes Augen weiten sich, ihre Haut wird weiß wie Schnee. »Frank, guck mal.«
Frank folgt ihrem Blick zur Tür. Dort steht Gina, gewählt gekleidet wie immer, und neben ihr, federleicht wie eine Daune, Ottilie.
»Lile!«, ruft Tom und springt auf.
Eine Sekunde später liegen sich Mutter und Tochter in den Armen und Frank steht daneben und wirkt sehr zufrieden.
»Gott sei Dank ...«,
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