Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
tobt, einige Zuschauer beginnen, den Platz zu stürmen. Zwar sind es noch ein paar Minuten in der ersten Halbzeit der ersten Verlängerung, aber wen interessiert das noch?
Das Spiel läuft weiter. Die Deutschen tapsen wie Traumwandler auf dem Dachfirst. Was ist da geschehen? Das gibt’s doch nicht, oder? Wir waren doch so nahe dran?! Waren so gut wie Weltmeister! Helden! Wie die vom Herberger, der Rahn, der Walter, der Morlock. Sie lassen die Köpfe hängen. Sind deprimiert und ebenso geht es Frank und den anderen in der Ampel. Nach endlosen Minuten der Lähmung geht die Diskussion los. Oma Käthe schimpft wie ein Rohrspatz. Stimmen durcheinander. Gebrülle und Flüche.
War der Ball drin oder nicht?
Unzählige Fernseh-Wiederholungen geben keinen Aufschluss. Man kann nur mutmaßen und selbstverständlich gibt es niemanden, der daran zweifelt, dass dieses Tor ungültig ist.
Nach dem sofortigen Wechsel geht es in die zweite Hälfte und Deutschland kämpft unermüdlich, jedoch die Enttäuschung lähmt die Beine, es fehlt das Glück und die Kraft und ein bisschen auch das Wunder.
Währenddessen am Platzrand englische Fans ihre Mannschaft feiern, trifft Hurst zum dritten Male und macht mit dem 4:2 alles klar. Aber das interessiert so wirklich niemanden mehr.
Jedermann ist sich einig: Deutschland wurde in der 98. Minute der Weltmeistertitel gestohlen.
»Das ist die Rache für London! Für Ausbomben«, grunzt Oma Käthe. »Jetzt haben wir gegen die Engländer verloren! Geschieht uns vermutlich recht.«
Deprimiert sitzen sie da, die Kumpels von Bergborn, ihre Frauen, Kinder und Gäste.
Das Spiel ist aus!
Höch! Krchk! Krchk! Laß uns gehen! Zu Hause gibt’s noch Gugelhupf und nen starken Kaffee! Manch einer muss zur Nachtschicht. Drei, vier Stunden noch schlafen.
»Ich kenn da nen Witz«, sagt Oskar mit schwerer Zunge, aber den will jetzt niemand hören.
Man trollt sich. Die Stimmung ist gedämpft, manche schimpfen, viele husten, rotzen, haben schlechte Laune und draußen nieselt es.
War dieses Fußballspiel ein Omen?, fragt sich Frank und erinnert sich der zwanzigtausend Mark, die er Otto heute versprochen hat. Was, wenn dieser Vertrag auch nur ein Lattenschuss ist?
Blöde Gedanken jetzt, aber wen wundert’s an diesem Nachmittag?
»Ich kenn wirklich nen guten Witz«, sagt Oskar und zieht einen freien Stuhl heran. Er grinst gutmütig. »Geht doch nich an, dass wir nu in Trübsal fallen, oder?«
Frank erinnert sich daran, dass Kant einmal gesagt hatte, der Himmel habe dem Menschen als Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.
Und Lachen möchte Frank jetzt.
Hat er nicht genügend Grund dazu? Seine Familie ist vereint. Das ist das Wichtigste! Der Streit zwischen den Frauen scheint beigelegt, Oma Käthe macht einen guten Eindruck und Oskar ist ein feiner Kerl.
Frank legt seinen Freund einen Arm über die Schulter und drückt ihm einen fetten Kuss auf die Pläte. »Hast recht, alter Junge. Scheiß auf Trübsal. Erzähl’ uns deinen Witz.«
DRITTER TEIL
1968
1
Die Aprilnacht ist mild und die Düfte von Leidenschaften, Sehnsüchten und Kümmernissen liegen über dem Tau, der gefallen ist. Entfernt gurren Brieftauben im Schlaf und träumen von Reisen und Zielen, ein Hund jankt gegen die zwei blechernen Schläge der Turmuhr an, die müden Schritte von Heimkehrern echoen zwischen den Häuserwänden der Siedlung, während ein Windstoß über die Fläche von Lebensfreude Bergborn zieht und die jungen Blätter in den Birken rascheln; das ferne Rattern eines Nachtzuges paart sich mit unbestimmten Lauten, die niemand in der Dunkelheit benennen kann.
Ein einsamer Spaziergänger geht durch die Nacht, ein Schemen zwischen rußigen Wänden. Vor seinen Füßen wieselt ein Tier aus dem Gebüsch und über den Asphalt, verharrt unter einer feucht schimmernden Straßenlaterne, richtet sich auf die Hinterpfoten, faucht mit roten Augen den Mond an und verschwindet unter eines der schweigend ruhenden Autos, in dessen Nähe Mopeds wie Angetrunkene an einem Pfahl lehnen.
Vor ihm ragt dieser barocke Steinkasten auf, den bald ein weitsichtiger Stadtplaner dem Erdboden gleichmachen wird, ein Scherenschnitt vor einem Himmel, der einem schillernden Sternentuch gleicht. Keine Dunstglocke heute, kein Nebel. Hinter den Fenstern herrscht der Schlaf, nur ganz oben, im vierten Stockwerk, ist das Dachfenster
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