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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benioff David
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zu Zeit drehte er sich um, deutete auf die in unmittelbarer Nähe und flüsterte: »Bleib!« Sie starrten dann zu ihm hoch, unerschrocken. In ihren Augen lag etwas seltsam Ungezähmtes. Diesen Hunden fehlte das anbiedernde komplizenhafte Verhalten ihrer domestizierten Artgenossen; sie kannten keine häuslichen Befehle: Nicht in die Küche machen. Nicht beißen . Eine silberhaarige Hündin trug noch ein purpurnes Halsband, und Leksi stellte sich vor, dass die anderen Hunde sie hänselten wegen dieses Zeichens der Unterwürfigkeit.
    Mit seinen achtzehn Jahren war Leksi der jüngste von den drei Soldaten. Sie gingen im Abstand von jeweils zehn Metern
im Gänsemarsch hintereinander her, Leksi hinten, Nikolai in der Mitte, Surchow vorne. Sie trugen ihre grau-weiß gescheckten Winteruniformen, die Parkas über die unförmigen Rucksäcke gezogen, damit alles trocken blieb, falls es schneite. Wir sehen aus wie bucklige alte Männer, dachte Leksi. Ständig rutschte ihm der Gewehrriemen von der Schulter, sodass er das Gewehr schließlich in den behandschuhten Händen trug. Er hatte sich noch immer nicht an das Gewehr gewöhnt. Es kam ihm nie schwer vor, wenn er es morgens aufnahm, aber bis zum Mittag, wenn sein Unterhemd trotz der Kälte durchgeschwitzt war, schmerzten seine Arme unter der Last.
    Wie alle seine Schulfreunde hatte auch Leksi es kaum erwarten können, sich freiwillig zu melden. Ab dem vierzehnten Lebensjahr war jedes Mädchen in seiner Klasse ganz verrückt nach den Soldaten gewesen. Soldaten hatten Gewehre, trugen Uniformen, fuhren Militärfahrzeuge. Ihre hohen schwarzen Stiefel glänzten, wenn sie in den Straßencafés die Beine übereinanderschlugen. War man achtzehn und kein Soldat, dann war man eine Frau; war man weder Soldat noch Frau, dann war man ein Krüppel. Leksi war seit dem Eintritt in die Armee nicht mehr in seiner Heimatstadt gewesen. Er fragte sich, wann er endlich in einem Straßencafé die Beine übereinanderschlagen und den kichernden Mädchen zuprosten würde.
    Stattdessen das hier: Schnee, Schnee und noch mehr Schnee. Für ihn sah immer alles gleich aus, und es nahm kein Ende. Leksi achtete nie darauf, wohin sie gingen; er folgte einfach den älteren Soldaten. Sollte er je aufblicken und feststellen, dass sie verschwunden waren, so wäre er in der
Wildnis verloren, ohne Hoffnung, je wieder herauszufinden. Er konnte nicht begreifen, warum irgendjemand hier leben, geschweige denn für dieses Land kämpfen wollte.
    Er hatte das tschetschenische Hochland zum ersten Mal vor einem Monat gesehen, als der Konvoi, der seine Infanteriedivision durch den mittleren Kaukasus transportierte, auf dem höchsten Punkt des Darjal-Passes anhielt, damit die Männer sich erleichtern konnten. Die Soldaten stellten sich in einer langen Reihe an den Straßenrand, sprangen wie die Verrückten auf und ab, pinkelten in den Wind, stießen lauthals Drohungen und Verwünschungen gegen ihre verborgenen Feinde in der weiten schneebedeckten Ferne aus.
    Er hatte an jenem Nachmittag gefroren, er hatte seit damals Tag und Nacht gefroren, er fror auch jetzt. Er fror so sehr, dass seine Zähne froren. Wenn er durch den Mund atmete, tat ihm die Kehle weh; wenn er durch die Nase atmete, tat ihm der Kopf weh. Aber er war der Jüngste, und er war Soldat, darum beklagte er sich nie.
    Surchow und Nikolai dagegen beklagten sich ununterbrochen. Sie riefen sich schon den ganzen Morgen alles Mögliche zu, immer hin und her. Leksi wusste, dass hier bewaffnete Guerillagruppen in den Bergen lauerten; er hatte gehört, dass sie eine Prämie bezahlt bekamen für jeden Feind, den sie ihrem Anführer brachten, dem wor w sakone, dem »befehlshabenden Dieb«. Gelegentlich fand man die Leichen russischer Soldaten gekreuzigt an Telegrafenmasten, die eigenen Genitalien im Mund. Ihre abgetrennten Köpfe wurden ethnischen Russen in Grosny und Wladikawkas vor die Tür gelegt. Leksi begriff nicht, wie Surchow und Nikolai so leichtsinnig laut sein konnten, aber sie waren schon seit Jahren Soldat.
Beide hatten schon viele Kampfeinsätze hinter sich. Leksi stellte ihnen keine Fragen.
    »Wenn Chlebnikow das Kommando hätte«, sagte Surchow gerade, »der würde hier in zwei Wochen aufräumen. Jetzt hocken hier zwölf Arschlöcher, die all den anderen Arschlöchern sagen, was sie tun sollen. Wenn Chlebnikow das Kommando hätte, der würde mit den zwölf Versagern kurzen Prozess machen, peng, peng, peng.« Surchow deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole

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