Alles auf Anfang
an und feuerte auf die unsichtbaren zwölf. Er trug keine Handschuhe. Genau wie Nikolai. Leksi fror gleich noch mehr, wenn er ihre bloßen roten Hände nur ansah.
Surchow war hager, aber zäh. Er konnte stundenlang ohne Pause durch den hohen Schnee stapfen und dabei die ganze Zeit schimpfen und singen. Sein Gesicht wirkte asymmetrisch, da das eine Auge ein wenig höher lag als das andere. Er schien dadurch ständig skeptisch dreinzublicken. Sein struppiges braunes Haar hing unter der weißen Strickmütze hervor. Die Mützen waren wendbar - innen schwarz für Nachtmanöver. Leksi, dessen Kopf noch vorschriftsmäßig rasiert war, fühlte sich verwundbar ohne seinen Helm, den er zurückgelassen hatte, nachdem Surchow und Nikolai dauernd Steinchen darauf geworfen hatten. Keiner der älteren Soldaten trug einen Helm. Helme galten als unmännlich, ähnlich wie Sicherheitsgurte, und waren nur etwas für UN-Beobachter und französische Journalisten.
Nikolais Haare waren sogar noch länger als die von Surchow. Nikolai sah aus wie ein amerikanischer Filmschauspieler, kräftiger Knochenbau und blaue Augen, bis er den Mund aufmachte, in dem die Zähne kreuz und quer standen.
Falls ihn seine Zähne störten, so war davon nichts zu merken - er lächelte ständig und ließ dabei sein ramponiertes Gebiss aufblitzen, wie um die Leute herauszufordern, auf die Zahnlücken zu zeigen. Was keiner je tat.
»Die bringen Chlebnikow nie und nimmer her«, sagte Nikolai. »Du quatschst dauernd von Chlebnikow dies und Chlebnikow das, na und? Das passiert nie und nimmer. Chlebnikow ist ein Panzer. Die wollen hier keine Panzer. Das da« - und hier deutete Nikolai auf sich und Surchow, ihren Marsch, ohne Leksi einzubeziehen -, »das da ist nicht relevant . Das ist ein Spiel . Soll ich dir die Wahrheit sagen? Moskau ist es nur recht, wenn wir sterben. Wenn wir sterben, dann lamentieren sämtliche Zeitungen darüber, die Politiker treten im Fernsehen auf und lamentieren darüber, und dann fangen sie, vielleicht, mal an, richtig zu kämpfen.«
Immer wenn Nikolai oder Surchow das Wort Moskau aussprachen, klang es abschätzig. Kraftausdrücke kamen ihnen leicht und flüssig über die Lippen, aber bei Moskau fügten sie das Gift einer aufrichtigen Verwünschung hinzu. Die meisten älteren Soldaten redeten genauso, und die Heftigkeit ihrer Gefühle verblüffte Leksi. Nikolai und Surchow nahmen so gut wie nichts ernst. Surchow konnte laut die Briefe vorlesen, die er von seiner Freundin bekam, und dabei eine hohe, zitternde Stimme nachäffen: »Ich sehne mich nach dir, mein Schatz, ich wache morgens auf und sehne mich bereits nach dir«, woraufhin er und Nikolai in Gelächter ausbrachen. Eines Abends schilderte Nikolai den langen, qualvollen Tod seines Vaters, der an Knochenkrebs starb, zuckte dann mit den Schultern und trank einen Schluck Kaffee, der mit Wodka versetzt war. »Tja, er hat länger gelebt als nötig.«
Vor einer Woche waren sie auf einer ungepflasterten Straße unterwegs gewesen. Sie gingen in den Spuren gepanzerter Mannschaftswagen, weil der ausgefurchte und festgefahrene Schnee besseren Halt bot. Sie stießen auf einen abgemagerten toten Hund, und Surchow schleifte ihn an den Vorderpfoten mitten auf die Straße. Amseln hatten die Augen und die Hoden ausgepickt. Surchow, die eine Hand am Nacken des Hundes, stellte die gefrorene Leiche des Tieres auf die Hinterbeine und benutzte sie als Bauchrednerpuppe, um im Falsett den alten Schlager von Schana Matwejewa zu singen:
»Warum gehst du fort, mein Liebling, warum gehst du fort? Ich habe nur Augen für dich, mein Liebling, ich habe nur Augen für dich.«
Nikolai hatte sich gebogen vor Lachen, die Hände auf die Knie gestützt, er hatte gelacht, bis die über ihnen kreisenden Amseln davonflogen. Leksi hatte gelächelt, weil es unhöflich gewesen wäre, nicht zu lächeln, aber er konnte den Blick nicht von dem augenlosen Gesicht des Hundes abwenden. Jemand hatte ihm in die Stirn geschossen; das Einschussloch war rund wie eine Münze. Einer der Soldaten von den Transportpanzern wahrscheinlich, der Schießübungen gemacht hatte.
Leksi war zutiefst abergläubisch. Seine Großmutter hatte ihn gelehrt, dass die Welt voller Tiere ist und dass sich alle Tiere kennen. Dass geheime Zusammenkünfte in der Wildnis stattfinden, bei denen die Angelegenheiten eines jeden Tieres erörtert und ausdiskutiert werden. Ein Junge aus seiner Schule hatte mit der Schleuder eine Taube abgeschossen, sie auf der
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